SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Die Nachfrage nach Exerzitien, nach Zeiten der Stille, ist heute groß und das Angebot vielfältig wie nie zuvor. Früher waren es meist Ordensleute und Priester, zu deren Leben gleichsam von Berufs wegen solche Zeiten wie selbstverständlich dazugehörten; fest eingeplant in ihren Jahresablauf. Heute sind es Frauen und Männer jeden Alters, mit den unterschiedlichsten Berufen, Verheiratete und Alleinstehende, die Zeiten der Einkehr und der Stille suchen - und finden. Es sind Menschen, die möchten, dass ihr Glaube wächst und lebendig ist, und solche, die nicht von sich sagen würden, dass sie an Gott glauben. 
Gemeinsam ist ihnen das Bedürfnis, ihre gewohnten Abläufe für eine gewisse Zeit zu unterbrechen, einen Abstand herzustellen. Sie möchten in ihren Gewissheiten eine offene Stelle zulassen, um einer Suche, einer Frage oder einem Zweifel nachzugehen, dem sie oft nicht einmal einen Namen geben können.
Der Dichter Rainer Maria Rilke schreibt an einen jungen Freund: „Ihr Zweifel kann eine gute Eigenschaft werden, wenn Sie ihn erziehen. Er muss wissend werden, er muss Kritik werden. Fragen Sie ihren Zweifel, ... verlangen Sie Beweise von ihm, prüfen Sie ihn, ... geben Sie nicht nach, fordern Sie Argumente und handeln Sie so, aufmerksam und konsequent, jedes einzelne Mal, und der Tag wird kommen, da er - der Zweifel - aus einem Zerstörer einer ihrer besten Arbeiter wird, - und vielleicht der klügste von allen, die an ihrem Leben bauen". (Briefe an einen jungen Dichter, Insel Bücherei Nr. 406, Frankfurt 19081, 21 und 50) Der Zweifel stört und zerstört oft Grundlagen des Lebens, die uns bisher den Alltag erleichtert haben, weil wir gar nicht nachdenken müssen. Auftauchende Zweifel vergessen und unterdrücken wir gerne; schließlich müssen wir ja unseren Alltag bestehen. Ganz anders dieser merkwürdige Rat von Rilke! Den Zweifel befragen, ihn prüfen, seine Argumente hören, sie mit anderen Argumenten beantworten, nicht nachgeben - weder dem Angriff des Zweifels noch der eigenen Faulheit des Denkens. Wer so gründlich, kritisch, aber auch lustvoll mit dem eigenen Zweifel umgeht, macht aus ihm, der zunächst ein zerstörerischer Eindringling zu sein scheint, einen klugen Mitarbeiter, vielleicht den klügsten Mitarbeiter an dem, der ich bin und werde.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12759
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