SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Es geht darum, Ihrem Gesprächspartner ein gutes Gefühl zu vermitteln." Ob in der Samstagsausgabe der seriösen Tageszeitung oder in der Frauenzeitschrift beim Zahnarzt: Ständig bekomme ich Tipps, wie ich im alltäglichen Smalltalk bestehen kann. Besonders im beruflichen Bereich. „Das Wetter ist nicht schlecht, um ein Gespräch zu beginnen. Themen wie Krankheit, Religion oder Politik dagegen ungeeignet."
Neu sind sie nicht, die Ratschläge für alltägliche Plaudereien, und auch nicht besonders überraschend. Trotzdem: Umso öfter ich sie lese, desto zweifelhafter werden sie mir. Was wäre, wenn wir sie alle konsequent beherzigen würden? Was bedeutet es für meine Beziehung zu den Menschen, denen ich begegne, wenn ich ständig überlegen muss, ob ich gerade „positiv ankomme"? Und warum muss das Thema Religion am Kopierer Tabu sein?
„Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden" (Römer 12,15) - legt der Apostel Paulus den Christen in Rom nahe. Und es geht ihm dabei nicht nur um Familienangehörige und enge Freunde. Ich finde das eine bemerkenswerte Haltung. Nicht, weil ich das in jeder Kaffeepause eins zu eins umsetzen wollte. Aber es ist doch ein heilsamer Gegenentwurf zur gängigen Smalltalk-Doktrin. Weil es den Gesprächspartner als Menschen wahrnimmt - nicht nur als Handelspartner bei der Vermarktung der eigenen Persönlichkeit. Weil es echte Begegnung ermöglicht, nicht nur gewinnbringende Kontaktaufnahme.
Schon klar: Es ist eine Frage der Vernunft, im Gespräch mit der Chefin nicht das Herz auf der Zunge zu tragen. Und ja, es ist im beruflichen Alltag nicht immer Raum für private Sorgen und es kann erwartet werden, dass ich ein Gespür dafür habe.
Trotzdem möchte ich auch beim Betriebsausflug oder bei einer Fortbildung mit Kollegen echte Gespräche führen können - und nicht nur Scheinkonversation.
Ich möchte gerne ihre ehrliche Meinung zu politischen Fragen hören - auch wenn es nicht meine ist. Ich finde es nicht anstößig darüber zu sprechen, worauf jemand hofft oder woran er glaubt - auch wenn wir nur eine Mahlzeit lang nebeneinander sitzen. Und ich kann es auch aushalten, wenn der andere dann nicht nur auf schöne Erlebnisse, sondern auch auf traurige Erfahrungen zu sprechen kommt.
Und ich glaube: Es schadet der Karriere nicht, wenn man natürlich und offen miteinander redet und Anteil nimmt an den Sorgen anderer. Im Gegenteil: Es tut gut, verbessert das Klima - und macht das Leben außerdem interessanter.
Ich zumindest werde auch weiterhin die Ratschläge der Beruf-und-Karriere-Seiten ignorieren und mich nicht immer um süßliches Wohlfühlgeplauder bemühen. Ich halte mich lieber an den biblischen Rat eines Paulusschülers: „Eure Rede sei immer freundlich - doch mit Salz gewürzt." (Kolosser 4,6)

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12735
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