SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Wenn ich jemandem begegne, der zutiefst traurig ist, dem die Tränen über die Wangen rollen - da kann ich mir nicht helfen, da werde ich auch traurig und schlucke meine eigenen Tränen runter. Wenn einer mir im Krankenhaus erzählt, dass er seit vier Wochen hier liegt, und mit der Aussicht lebt, nur noch diesen Frühling zu haben, da sacke ich in mir zusammen, schließe kurz die Augen und denke: Schrecklich! Einfach schrecklich!   
Nicht nur Lachen und Fröhlichsein ist sind ansteckend. Weinen und Traurigsein auch. „Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden, " heißt es in der Bibel. Aber dazu braucht es eigentlich kein Gebot. Lachen ist ansteckend. Traurigsein leider auch. Wie ein schwerer Nebel legt sich die Stimmung des anderen auf das eigene Gemüt. Dabei war man gekommen, um aufzuheitern, um zu trösten. Doch nach ein paar Minuten ist nichts mehr davon übrig. Wie zerbröselt sitzt man da und möchte nur noch mitweinen. Und versichert auch noch dem Sterbenskranken, obwohl man es besser weiß, aus lauter Hilflosigkeit: „ Mach dir keine Sorgen! Kopf hoch! Das wird schon wieder!" Manche Kranke spüren, dass sie quasi ansteckend sind mit ihrem Traurigsein. Und sie beginnen, gerade gegenüber den Menschen, die ihnen die liebsten sind, zu schweigen.
Was wäre in so einer Situation hilfreich - für einen selbst und den anderen? „Weine mit den Weinenden" Der Ratschlag nützt nur, wenn zwischen dem Leidenden und dem Mit-Leidendem, dem Weinenden und dem Mit-Weinenden wieder ein wenig Distanz hergestellt wird. Aber wie?
Manchmal hilft es schon, einfach aufzustehen, das Fenster zu öffnen, eine kleine Besinnungspause in das Gespräch einzulegen, sich zu sammeln. In dieser Pause kann man sich selbst einmal fragen: Verstehe ich wirklich, wie dem anderen zumute ist? Mache ich mir selber nicht etwas vor, wenn ich glaube: Ich fühle das alles genauso, wie er fühlt?
Wir sind dem anderen in so einer Situation vielleicht näher, wenn wir ihm ein wenig fern bleiben. Hilfreich ist es vielleicht auch, wenn wir den Blick wechseln: fort von dem, was mit dem Leben verloren geht, hin zu dem, was im Leben gewonnen wurde. Denn „für gewöhnlich sieht der Mensch nur das Stoppelfeld der Vergänglichkeit; was er übersieht, sind die vollen Scheunen der Vergangenheit", schrieb Viktor Frankl. „Im Vergangensein ist nämlich nichts unwiederbringlich verloren, vielmehr alles unverlierbar geborgen."

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