SWR2 Wort zum Sonntag

SWR2 Wort zum Sonntag

Aufruf zur politischen Beteiligung

Zurzeit ist viel von Wahlen die Rede. In vielen arabischen Ländern wird zum ersten Mal gewählt. Menschen weinen vor Freude, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben ihre Stimme abgeben können. In Russland gibt es nach den Wahlen am vergangenen Sonntag viele Vorwürfe eines Wahlbetrugs. Auch bei uns in Deutschland gibt es in zwei Bundesländern in den nächsten Monaten Wahlen. Am heutigen Sonntag werden in Frankfurt und Mainz neue Oberbürgermeister gewählt. Dies zeigt schon die ganze Spannung auf, in der wir leben. Menschen sind überglücklich über ihre erste Wahlmöglichkeit. Andere manipulieren die Wahlen in ihrem eigenen Interesse. In unserem Land müssen wir leider feststellen, dass die Wahlbeteiligung auf fast allen Ebenen - der Gemeinden, der Länder und des Bundes - zum Teil ganz einschneidend abgenommen hat. Man spricht von Politikverdrossenheit und von großer Unzufriedenheit mit der praktischen Politik. Neue Parteien erringen rasch erstaunlich hohe Anteile. Man denke z. B. nur an die Piratenpartei. Ob es nur modische, kurzlebige Erscheinungen sind? Oder ob unsere ganze Parteienlandschaft neu sortiert wird? Vor einiger Zeit traf ich ein Ehepaar, das schon lange in unserem Lande wohnt, aber aus Afghanistan kommt. Sie haben wegen der erdrückenden Unsicherheit und der Korruption ihre Heimat verlassen. Sie waren schon in vielen Ländern der Welt, wo sich auch ihre Verwandten aus einer großen Familie niedergelassen haben. Sie finden, dass nach ihrer großen Erfahrung Deutschland das beste Land ist, das sie kennen. Sie wissen natürlich, dass man noch vieles auch bei uns verbessern kann. Aber sie verstehen nicht, warum bei uns so viele Menschen unzufrieden sind und z. B. auch die Chancen, an freien Wahlen teilzunehmen, nicht nützen. Es gibt viele Formen einer grundsätzlichen Kritik an Wahlen. Die Wähler würden sich nur von Stimmungen leiten lassen. Auf den schwankenden Volkswillen könne man keine langfristige Politik bauen. Wahlen würden immer noch den „Klassencharakter" verschleiern. Andere sehen in Wahlen nur einen formal-demokratischen Mechanismus, der aber wenig Bedeutung habe. Gewiss gibt es in der heutigen Wahlpraxis die eine oder andere Schwäche. Der Wahlkampf gleicht z. B. oft einem „Werbefeldzug", in dem man mit der Wahrheit wenig zimperlich umgeht. Manche Medien treiben eine versteckte Wahlhilfe. Es gibt gewiss auch neue Formen der politischen Partizipation, wie z. B. Bürgerinitiativen, Teilnahme an Demonstrationen, Aktivität in Verbänden. Diese politischen Initiativen sind seit den frühen 70er Jahren zahlreicher geworden. Dennoch stellen Wahlen immer noch das wichtigste Beteiligungsinstrument der Bürger dar. Durch den Wahlakt gibt es eine echte Gelegenheit zur Einflussnahme. Es gibt im Grunde keine demokratisch fundierte Alternative zu ihnen. Man spricht gerne von „Wahlpflicht". Ich mag dieses Wort nicht gerne. Es gibt ja keine gesetzliche Verpflichtung. Wer nicht in sich selbst ein Interesse und einen vielfachen Antrieb zur Wahlbeteiligung verspürt, den holt auch eine bloße „Pflicht" nicht hinter dem Ofen hervor. Wir müssen die Möglichkeit freier Wahlen wieder von innen her entdecken. Mit Recht sagt ein Text des Zweiten Vatikanischen Konzils dazu: „Alle Staatsbürger aber sollen daran denken, von Recht und Pflicht der freien Wahl Gebrauch zu machen zur Förderung des Gemeinwohls. Die Kirche ihrerseits zollt der Arbeit jener, die sich zum Dienst an den Menschen für das Wohl des Staates einsetzen und die Lasten eines solchen Amtes tragen, Anerkennung und Achtung:" (Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, „Gaudium et spes", Art. 75) Dies gilt weltweit, freilich auch für uns und bei uns.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12697
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