SWR2 Wort zum Tag

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Was gibt einem Leben Bedeutung? Mit dieser Frage habe ich jüngst einen Roman des amerikanischen Autors Stewart O'Nan gelesen. „Emily, allein" - so ist sein Titel. O'Nan erzählt sehr sensibel von einer 80-jährigen Dame, die sechs Jahre nach dem Tod ihres Mannes in ihrem geordneten Haus ein geordnetes, gleichförmiges Leben führt. Sie geht mit ihrem schon alten Hund Rufus spazieren, besucht immer Dienstags mit ihrer Schwägerin Arlene ein Restaurant, in dem es ein Frühstücksbuffet zum halben Preis gibt. Sie hört Musik, löst Kreuzworträtsel und liest viel. Das sind verlässliche Eckpunkte ihres Daseins. Zu den Ritualen ihres Lebens gehört es auch, ihren Kindern und Enkelkindern regelmäßig Grußkarten oder Geschenke zu schicken - um dann befremdet zu sein, wenn diese sich gar nicht oder nur beiläufig bedanken. Weihnachten ist Jahr für Jahr mit der freudigen Erwartung verbunden, dass die Tochter und der Sohn mit ihren Familien kommen und dass die Familie dann irgendwie wieder wie früher ist. Und Jahr für Jahr ist sie enttäuscht darüber, dass der Besuch nichtssagend war oder dass alte Spannungen wieder aufblitzten oder beides zugleich - falls nicht kurz vor dem Fest sowieso eine Absage gekommen war. Und dann spürt sie auch, dass sie sich doch schon sehr lange daran gewöhnt hat, alleine zu leben in ihrer überschaubaren Ordnung. Einige Tage lang, so erzählt der Roman, ist Emily damit beschäftigt, die vielen Kleenex-Schachteln im Haus neu zu ordnen. Ein ereignisloses Leben - scheinbar. Auch Emily kommt es manchmal so vor. Erinnerungen an vergangene Zeiten tun ihr eher weh, weil sie ihr diese Armut an Ereignissen noch deutlicher vor Augen führen und ihr zeigen, dass sie im Laufe ihres langen Lebens nach und nach alles verloren hat. Und zugleich wirken die ungelösten, über viele Jahre verdrängten Probleme in der Familie weiter nach. Und sie fragt sich, welche Schuld sie daran trägt. „Obwohl alles allmählich verblasste, war nichts jemals abgeschlossen", heißt es in dem Buch. Ein Leben wie so viele. Ein ereignisloses Leben? Gar ein bedeutungsloses Leben? Scheinbar steht die Tristesse im Vordergrund. Aber es ist eine Frage der Betrachtungsweise. Ist es bedeutungslos, wenn Emily sich liebevoll um ihren kranken Hund kümmert? Wenn sie mit dem neuen Kleinwagen zu fahren übt, den sie sich noch leistet, um unabhängiger von den Nachbarn und der Schwägerin zu sein? Wenn sie versucht, am Leben ihrer Kinder und Enkel ein wenig teilzuhaben, auch wenn diese inzwischen ein ganz anderes Leben führen und mit ihren eigenen Problemen recht und schlecht klar kommen? Ist das ein bedeutungsloses Leben? In jeder Phase meines Lebens haben die Ereignisse die Bedeutung, die ich ihnen zumesse. Auch wenn die scheinbar wichtigen Ereignisse mit zunehmendem Alter immer weniger werden, so heißt das nicht, dass das Leben bedeutungslos wird. Es ist immer so bedeutend, so sinnerfüllt, wie ich es sehen und annehmen kann.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12696
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