SWR2 Wort zum Tag

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Eine der für mich merkwürdigsten Bitten des Vaterunsers ist die sechste Bitte: „Führe uns nicht in Versuchung". Prüft denn Gott den Glauben derer, die auf ihn vertrauen? Experimentiert Gott mit dem Menschen, und sind die Menschen seine Probanden? Und was bedeutet überhaupt: jemanden in „Versuchung" führen?
Das Wort „Versuchung" klingt moralisch. Es legt möglicherweise die Assoziation an Verbotenes nahe, besonders an solche Dinge, die in der Kindheit und Jugend tabu waren und - nicht selten aufgeladen durch entsprechende Warnungen und Sanktionen - ihren besonderen Reiz ausübten und oftmals noch bis ins Erwachsenenalter ausüben.
Doch das Wort „Versuchung" hat noch eine andere Dimension, und ich halte die sechste Bitte des Vaterunsers auch für grundsätzlicher, für geradezu politisch: Menschen sind nicht auf ihre Instinkte festgelegt. Sie richten ihr Leben ein nach dem Prinzip von „trial and error" - Versuch und Irrtum. Diese Strategie hat die Gattung Mensch ziemlich weit gebracht. Doch sie birgt auch Gefahren. Im Versuch liegt die Versuchung. Und nicht alles, was möglich ist, ist auch heilsam oder - wie man etwas missverständlich sagt - „lebensdienlich".
Um nur ein, vielleicht extremes Beispiel zu nennen: die Versuchung, den Menschen genetisch perfekt zu machen. Vor über zehn Jahren trat der amerikanische Physiker Richard Seed mit seinen Plänen ins Rampenlicht der Öffentlichkeit, menschliche Lebewesen zu klonen. Seither heizt er mit exzentrischen Äußerungen die Debatte um sein Projekt an. Seeds Pläne mögen überzogen sein, aber sie zeigen auch die Auswüchse eines hybriden Selbstmissverständnisses des Menschen: alles ist möglich dem, der es versucht.
Offenbar muss dem menschlichen Prinzip von Versuch und Irrtum ein Korrektiv an die Seite gestellt werden - eine Steuerungsinstanz, die Einhalt gebietet. Eben kein Instinkt, aber ein Gespür dafür, dass die schöpferischen Lebensmöglichkeiten des Menschen Grenzen haben.
So verstanden meint die sechste Bitte des Vaterunsers wohl die Einsicht in die Grenzen des Menschenmöglichen. „Führe uns nicht in Versuchung" heißt dann: „Bewahre uns Menschen vor der Versuchung, die Möglichkeiten, die du, Gott, uns zum Leben gegeben hast, zu überreizen."

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12602
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