SWR2 Wort zum Tag

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„Vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern" lautet die fünfte Bitte des Vaterunsers. Häufig wird sie im moralischen Sinn verstanden: da hat jemand einem anderen Unrecht getan und wo die Wiedergutmachung nicht oder nur schwer zu leisten ist, dort soll das Prinzip Vergebung greifen. In der zwischenmenschlichen Beziehung ebenso wie in der Beziehung des Menschen zu Gott.
Jesus hat diese Bitte formuliert, das Vaterunsergebet geht auf ihn zurück. Doch so, wie er sich an anderen Stellen der biblischen Evangelien zum Thema Schulden geäußert hat, muss ich annehmen, es geht ihm weniger um moralisches Unrecht - auch im Vaterunser. Das von Jesus an dieser Stelle benutzte Wort meint umgangssprachlich weder Übertretungen noch Unrecht, sondern das Schuldig-Bleiben einer Geldsumme.
Immer wieder benutzt Jesus Beispiele aus der Welt des Handels und der Wirtschaft, vor allem der Finanzwirtschaft, um zu verdeutlichen, was es bedeutet, in Schulden verstrickt zu sein. Wer einmal in Geldschulden steckt, kommt so leicht nicht mehr heraus aus diesem Sog. Kredite sind teuer. Ihre Zinsen zu bedienen, ist in der Regel schwieriger als die Tilgung. Geldschulden entwickeln eine strangulierende Dynamik.
Auf das dahinter stehende Problem macht Jesus aufmerksam: Menschen leben vom Kredit, von einem Vertrauensvorschuss. In dem Wort „Kredit" steckt das lateinische Wort für „glauben", „vertrauen". Ohne ein gewisses vorschießendes Vertrauen wäre menschliches Leben nicht möglich. Ebenso realistisch ist aber die Einsicht, dass dieser Kredit bisweilen unerfüllt bleibt, dass Vertrauen enttäuscht wird. Und in eben diese Lücke zielt die fünfte Bitte des Vaterunsers.
Das gilt übrigens nicht nur für die Beziehung von Mensch zu Mensch, sondern gerade auch für die Beziehung Mensch - Gott. Nach Jesu Verständnis glaubt auch Gott an den Menschen: Gott hat ihm das Leben geschenkt, verbunden mit der Erwartung, es zu Gottes Ehre und zum Wohl der Menschen zu gestalten.
Gewiss, die Kluft zwischen Vertrauen und Erfüllung darf nicht zu groß werden, der unbediente Kredit nicht zum Kalkül einer billigen Gnade. Aber ohne einen gelegentlichen Schuldenschnitt geht es nicht - zwischen Mensch und Gott nicht, aber auch nicht zwischen Mensch und Mensch.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12601
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