SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Erlauben Sie mir heute einige persönliche Gedanken: Vor kurzem bin ich 60 Jahre alt geworden. Ich hatte keine Angst vor diesem Datum; viele Menschen geraten ja vor einem fortgeschrittenen „runden“ Geburtstag in Panik. Dennoch bin natürlich auch ich nachdenklich geworden. Der größte Teil des Lebens ist unwiederbringlich vorbei. Wenn in jungen Jahren das Leben noch ungezählte Möglichkeiten bereit gehalten hat, so wird die Bandbreite jetzt doch deutlich schmäler. Das noch zu lebende Leben wird weniger; das bereits gelebte Leben dagegen, die guten Erfahrungen, die hinter mir liegen, aber auch die verfehlten Chancen, die nicht eingeschlagenen Wege – all dies wird immer mehr. Die Zeit, so hat man den Eindruck, vergeht schneller. Ich werde mir deutlicher bewusst, dass das Leben endlich ist – nicht nur das Leben allgemein, das weiß man irgendwie. Aber die Endlichkeit meines eigenen Lebens – das ist schon etwas anderes.
Fast gleichzeitig mit dem runden Geburtstag habe ich jetzt noch einmal den Beruf gewechselt. Das ist ungewöhnlich. Viele in meinem Alter sind bereits im Ruhestand – freiwillig oder zwangsweise. Viele lassen die letzten Berufsjahre noch so auslaufen. Im Allgemeinen sind die Berufschancen nicht mehr sehr hoch, wenn man einmal die Fünfzig oder gar die Sechzig überschritten hat.
Nun mache ich die gegenteilige Erfahrung. Ich erlebe noch einmal einen neuen beruflichen Aufbruch. Ich habe noch einiges vor mir. Ich kann noch einmal etwas bewegen. Ja vielleicht das Schönste: Ich wurde noch einmal gefragt. Es wird mir noch etwas zugetraut. Das tut sehr gut.
Ist es mir also noch einmal gelungen, das Älterwerden „auszutricksen“? Kann ich noch einmal das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit überspielen? Ich glaube nicht. Natürlich weiß ich, dass meine Zeit begrenzt ist. Aber ich habe eine wichtige Erfahrung neu gewonnen – die Erfahrung der geschenkten Zeit. Die geschenkte Zeit, das Leben, das hinter mir liegt, selbstverständlich. Ich kann es insgesamt dankbar annehmen. Aber auch die geschenkte Zeit, die vor mir liegt. Gerade weil ich ernst nehme, dass meine Zeit begrenzt und mein Leben endlich ist, kann ich die vor mir liegenden Jahre, jeden neuen Tag, als eine große Chance, als eine Fülle von Möglichkeiten annehmen und gestalten. Kann ich die Begegnung mit geliebten Menschen als neues Glück erleben; kann ich das Miteinander mit weniger geschätzten Menschen etwas freundlicher gestalten. Die so genannten „besten Jahre“ – wer sagt denn, dass sie hinter mir liegen? Vielleicht liegt die beste Zeit ja noch vor mir? Das ist immer möglich – gleichgültig übrigens, wie alt ich bin; unabhängig auch davon, ob ich noch berufstätig bin oder nicht. https://www.kirche-im-swr.de/?m=1249
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