SWR4 Sonntagsgedanken

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Immer wieder muss man im Leben das Loslassen üben

Ich habe es nochmals gezählt. 14 Umzüge habe ich in meinem Leben schon hinter mich gebracht. An die ersten Umzüge als Kind kann ich mich kaum erinnern. Schon viel mehr an den Auszug von zuhause und das Nomadenleben als Studentin. Das Umziehen war damals mehr Abenteuer als Belastung. Die Familie vergrößerte sich und beim letzten Umzug stand schon ein riesiger LKW vor der Tür. Und transportierte unseren Hausrat 500 Kilometer durch die Republik. In diesem Jahr ist es wieder soweit. Derzeit empfinde ich so eine Mischung von Grauen und Tapferkeit, wenn ich daran denke. Hab schon angefangen mit ausmisten und Keller leer räumen. Es soll Leute geben, die das gern machen. Für mich ist es richtig schwer. Weil ich eine Sammlerin bin. Am schlechtesten kann ich mich von den Sachen der Kinder trennen. Da hängen so viele Erinnerungen dran. Vielleicht bekomm ich mal Enkelkinder, die gern mit Lego und der Eisenbahn spielen. Die kann ich unmöglich weggeben. Trotzdem, ich muss weiterverschenken und wegwerfen - loslassen eben. Zwei Autoladungen hab ich schon auf den Müllplatz gefahren - und ein gutes Gefühl gehabt. Mehrere Kartons sind auf dem Flohmarkt der Kirche gelandet. Auch das erleichtert. Denn ich weiß ja ganz genau: das letzte Hemd hat keine Taschen. Schleppe ich zuviel Ballast mit herum? Die Frage stelle ich mir schon. Und beneide ein bisschen die Menschen, die mit ganz wenig auskommen. Dabei glücklich sind. Und irgendwie freier. Mir fällt Maria ein. Eine hochbetagte Dame in meiner ersten Gemeinde in Wien. Sie lebte mit ihrem Mann in einem Zimmer. Mitten im Zimmer stand das Doppelbett, daneben der Esstisch mit zwei Stühlen. Die gebürtige Tschechin war eine begnadete Köchin. Ihr Mann, ein pensionierter Ober servierte mit großer Grandezza die herrlichsten Köstlichkeiten. Obwohl sie nach dem Prager Frühling fliehen musste und nichts mitnehmen konnte, war sie nicht verbittert. Im Gegenteil - selten habe ich einen so liebenswürdigen und herzenswarmen Menschen kennengelernt. Jeden Sonntag besuchte sie den Gottesdienst und sang hingebungsvoll die alten Choräle. Sie liebte die Menschen, ganz besonders die Kinder. Und sie liebte Gott mit großer Treue. Nach menschlichem Ermessen besaß sie so wenig. Aber in ihren Augen leuchtete ein geheimnisvoller Reichtum, der alle, die sie kannten, faszinierte. Sie hat damals losgelassen, was sie besaß. Und ist doch nicht arm geworden.

In ein paar Monaten ziehe ich mit meiner Familie um. Vorher muss ich unseren Haushalt durchsortieren. Verschenken, verkaufen, wegwerfen.
Kein leichtes Loslassen für mich. Loslassen muss ich aber auch Menschen, Beziehungen, Geschichten. Besonders schwer ist das, wenn ich starke Empfindungen mit ihnen verbinde. Freundschaftliche, kollegiale oder aber auch verletzte, gekränkte Gefühle.
Menschen sind da sehr verschieden. Manche schaffen es spielend, sich zu verabschieden. Und dann sind sie wirklich weg. Man hört nichts mehr von ihnen. Sie öffnen sich ganz dem Neuen. Sie machen einen klaren Schnitt. Auch wenn der bei manchen Zurückgebliebenen weh tut. Ich gehöre eher zu der anderen Sorte Mensch. Pflege Freundschaften über Jahre und über Kilometer hinweg. Mich interessiert einfach, wie es der Freundin, mit der ich Examen gemacht habe, heute geht. Und dem jungen Mädchen, das mit unsrem Sohn die ersten Lebensjahre gespielt hat. Deshalb finde ich es auch ganz schön schwierig, wenn ich in der Bibel lese: „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geeignet für Gottes Welt". Jesus hat das gesagt und er hat auch so gelebt. Sehr bewusst in der Gegenwart, zugleich zielstrebig in die Zukunft, voller Gottvertrauen und voller Selbstvertrauen. Die Vergangenheit hat ihn nicht wirklich beschäftigt. Ich will ja auch Teil von Gottes Welt sein.
Aber geht es nur radikal, immer im Hier und Jetzt, nur nach vorne gerichtet, nicht reflektierend über das, was war? Kann ich nur zu Gott und seiner Welt gehören, wenn ich völlig unsentimental und nostalgiefrei den Blick streng nach vorne richte? Was Jesus sagt, bleibt für mich ein Stachel. Aber auch eine Ermutigung. Gerade wenn ich nicht loslasse. Mich in dem, was war, ein bisschen selbstmitleidig verliere. Dann hilft es mir, über Jesu Bild vom Pflugführen nachzudenken. Denn wenn ich mich zu sehr im Blick zurück verliere, dann werden die Pflugbahnen wirklich schief und krumm. Ich kann keine grade Furche mehr ziehen.
Die brauche ich aber, wenn ich die neue Saat aussäen möchte, um wieder eine gute Ernte einzufahren. Im neuen Arbeitsfeld, im neuen Lebensabschnitt.
Ich glaube nicht, dass Jesus was dagegen gehabt hätte, hin und wieder mal einen prüfenden Blick zurück zu werfen. Aber er wollte wohl vor dem gebannten Rückwärtsblick warnen, der sich nicht von dem abwenden kann, was war. Ob Gutes oder Schweres.
Ich werde weiter meine alten Freundschaften pflegen, sie sind mir lieb und kostbar. Aber ich werde auch viele Menschen wieder aus meiner Fürsorge entlassen. In die Obhut und Begleitung anderer. Und ich sorge dafür, dass in meinem Kopf und Herz Raum da ist für neue Menschen, neue Geschichten, neue Erfahrungen. Ich lasse die alten los und verliere sie doch nicht. Denn ich kann sie dankbar in meinem Schatz der Erinnerungen bergen. Den kann ich zum Glück überall hin mitnehmen. Egal, wie oft und wohin ich ziehe.

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