SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Sie war korpulent, und wirklich keine Schönheit, sie war auch nicht die Hellste in der Studentengruppe und hatte ihr Abitur erst im 5. Anlauf geschafft, damals in Paris. Eigentlich war sie eher geduldet als gelitten, ein Fremdkörper, viele von uns wunderten sich, dass sie überhaupt die Aufnahmeprüfung geschafft hatte. Noch mehr fragten sich, wie sie wohl jemals die Examina bestehen könnte. Wir anderen waren jung und unbefangen und auch ein bisschen grausam. Sie hat mit Sicherheit gespürt, dass sie am Rand stand.
Dann kam diese Fete, alle waren da, auch sie. Irgendwer hatte eine Gitarre dabei und sie bat darum, sie spielen zu dürfen. Merklich zögernd überließ man ihr das Instrument. Sie griff zu, nicht so tölpelhaft, wie sie sich sonst präsentierte, vielmehr zielgenau, man merkte sofort, dass sie sich mit diesem Instrument auskannte.
Dann setzte sie sich und begann zu singen. „Ne me quitte pas", von Jaques Brel. Verlass mich nicht, ne me quitte pas. Nach zwei Takten verstummte das Gespräch, ich weiß es noch ganz genau, es war magisch, wir alle drehten uns um zu ihr und hörten zu. Aus diesem unförmigen Körper erklang eine Stimme, klar, rein, die uns in ihren Bann zog. Die Stimme seufzte mit den Worten Jaques Brels und wir wurden verzaubert, hingen an ihren Lippen. Ne me quitte pas, bettelten die Strophen, und wir hätten ihr, alle, in diesem Augenblick sofort versprochen, sie niemals zu verlassen. Sie war nicht mehr das dickliche Wesen, als das wir sie kennen gelernt hatten, sie verwandelte sich mit diesem Lied, mit ihrer Stimme, während sie sich uns zu Füßen warf: Ne me quitte pas, verlass mich nicht.
Dann verklang der letzte Akkord, und sie gab die Gitarre zurück. Es dauerte einen Moment, bis wir uns wieder gefasst hatten. Es ging dann, scheinbar, alles weiter wie vorher, so, als ob sie nie gesungen hätte. Niemand sprach mit ihr. Sie saß allein in einer Ecke.
Ich habe diesen Abend nicht vergessen, bis heute. Sie hatte, singend, einen Schein um ihr Gesicht. Eine Aura. Ich glaube: Für einen Augenblick habe ich einen Menschen so wahrnehmen können, wie Gott ihn sieht. Besonders, einzigartig, faszinierend.
Was aus ihr geworden ist? Ich weiß es nicht. Ich wünsche ihr das, was sich wohl jeder ersehnt: Einen Menschen, der - nicht nur für einen Moment, sondern über einen vergänglichen Augenblick hinaus - dieses Besondere wahrnehmen kann. Ein Mensch, der sie sehen kann mit dem Blick Gottes.
Ne me quitte pas.

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