SWR2 Wort zum Tag

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Sie ist 85 Jahre alt geworden und man sieht es ihr tatsächlich nicht an. „Ich versorg mich selbst" sagt sie selbstbewusst und führt mich lächelnd in ihre kleine Wohnung. Die größere musste sie aufgeben, vor einigen Jahren, die Rente war zu knapp. Der Sohn verdient gut, aber offensichtlich hat sie von ihm keine Unterstützung zu erwarten, sie beklagt sich nicht darüber, erwartet nichts von ihrem Kind. Vielmehr erzählt sie, stolz und strahlend, wie sie geputzt hat, um ihm eine bessere Zukunft zu eröffnen, und sie hat es geschafft, er hat studiert und bekleidet eine leitende Position. Sie selbst hatte keine Chance, schon damals nicht, als sie mit 10 Jahren Vollwaise wurde und 15 Mark im Monat bekam. Das reichte kaum für´s Essen. Nach der Konfirmation musste sie gleich arbeiten gehen, und die Arbeit war hart. „Ich hatte ja nichts gelernt" erklärt sie freundlich, „da blieb nur die schwere Arbeit." Nach dem Krieg hat sie geheiratet. So richtig glücklich scheint mir ihre Ehe nicht gewesen zu sein, der Ehemann verbittert durch Kriegserfahrungen. Zärtlichkeiten? Sie - lächelt, während sie mit dem Kopf schüttelt. „War eigentlich mal jemand richtig gut zu Ihnen?" frage ich und sie überlegt. Wahrscheinlich hat ihr noch nie jemand so eine Frage gestellt -  Güte war offenbar keine Kategorie dieses Lebens, es fällt ihr niemand ein. Freundlich seien sie schon gewesen, die Vorgesetzten, aber eben nur, weil sie zuverlässig arbeitete, nicht - einfach so. „Warum können Sie so viel lächeln?" frage ich sie. Sie ist erstaunt. „Na, weil ich frei bin, jetzt, wo ich nicht mehr arbeiten muss. Endlich frei! Ich habe genug, ich muss - endlich! - nicht mehr arbeiten, und ich kann mich noch selbst versorgen. Ich bin frei!" Sie strahlt. Das Strahlen einer Frau, von der Ballast abgefallen ist, und was macht es da schon, dass sie jetzt die ein oder andere Chemotherapie überstehen muss. „Mir geht es gut!" sagt sie. Und dann, kaum fassbar, gewinnt ihr Strahlen noch an Intensität. Sie erzählt vom Enkel, der ihr einen neuen Fernsehsessel geschenkt hat, zu Weihnachten, einfach so. Der steht manchmal vor der Tür, der Enkel, das ist wirklich ein Glück. Er ist gut zu ihr, ohne Geschenke zu erwarten. Möglicherweise spürt er, dass er von seiner Oma anderes erhoffen kann, denke ich. Lebensweisheit zum Beispiel. Ihr Leben lang hat sie für andere gearbeitet, doch ihr Lächeln, ihre Freiheit, die gehören ihr ganz allein, die kann sie verschenken, aber die kann niemand kaufen. Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan, hat Martin Luther gesagt. Ich stelle mir vor, er hat gelächelt, als er das gesagt hat, möglicherweise trotziger als die alte Dame, die ich besucht habe, aber gelächelt hat er schon. So wie sie, als sie mich zur Tür begleitet. Stolz und frei. Eine Königin.

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