SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Sie hat große braune Augen und ein schmales Gesichtchen, ist 10 Jahre alt und sagt nur etwas, wenn sie es sich sehr gut überlegt hat. Mit ihr und ihren Klassenkameraden aus der 4. Klasse habe ich im Religionsunterricht festgestellt, dass es im Leben Schwellensituationen gibt, also diese Zeiten, in denen etwas Neues anfangen muss und soll. Wir haben einander über die Schwelle des Klassenraums getragen und gemerkt, warum das bei Hochzeiten so Brauch ist, und die Kinder haben erzählt, dass es ihnen schon zu schaffen macht, dass sie in einem halben Jahr die vertrauten Räume der Grundschule verlassen müssen, um auf die weiterführenden Schulen zu gehen. Sie machen Angst, diese Schwellensituationen, sie sind aber auch spannend. „Warum ist das wohl so im Leben, warum läuft nicht alles glatt?" Viele Kinder melden sich, nach einer Zeit auch sie, mit ihrem schmalen, konzentrierten Gesicht: „Weil", meint sie, „wir sonst nicht merken würden, wenn wir glücklich sind." Ich schaue sie an, verblüfft über die Tiefe ihrer Weisheit, und sie meint wohl, dass sie es mir noch ein bisschen erklären muss. „Wenn alles immer gleich ist, dann gibt es keine Höhen und Tiefen. Ich brauch´ das mit den Schwellen, weil, wenn ich vorher traurig war, und ich hab´s dann geschafft, dann merke ich auch, dass ich glücklich bin."  Den anderen Kindern leuchtet das ein, und sie ergänzen, dass man anschließend auch stolz auf sich sein kann und mutig, weil man erlebt hat, dass man stärker ist als man vorher vielleicht gedacht hat.
Sie hat sich dann noch mal gemeldet. „Meine Oma stolpert jetzt immer über die Schwellen in ihrem Haus", sagt sie leise. Der Opa ist vor einem Jahr gestorben. Wir werden alle nachdenklich. Die letzte Schwelle ist der Tod. Der Opa hat der Oma bestimmt oft geholfen, seitdem er sie damals als junge Braut über die Schwelle getragen hat. Jetzt ist sie allein. Wer trägt sie jetzt? Denn wir brauchen einander im Leben, um uns über Schwellen zu helfen, um miteinander traurig und glücklich zu sein.
Gemeinsam mit allen Kindern lese ich den 121. Psalm. „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher kommt mir Hilfe?" Manchmal kommen einem Schwellen vor wie riesige Berge. Wie gut, wenn Menschen helfen, ich bin dankbar, dass ich auch um Gottes Nähe weiß: Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat", das steht ebenfalls im Psalm. Und - Welch ein Glück: Gott hat einen Segen für uns, für alle Schwellensituationen unseres Lebens, er findet sich ebenso im 121. Psalm: „Der HERR segne deinen Ausgang und Eingang, von nun an bis in Ewigkeit."

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