SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Exerzitien gibt es schon lange und es gibt sie in vielerlei Formen. Menschen suchen Stille, gehen für mehrere Tage an einen Ort, der sich in fast allem von dem unterscheidet, wo sie tagtäglich sind. Sie suchen Distanz zum Alltag, Zeiten der Aufmerksamkeit, des Hörens, des Gebetes. Sie kommen und brauchen nicht gleich Rechenschaft abzulegen, was sie erwarten und anzielen. Und das ist gut so - einfach nur da zu sein, zu warten, dass etwas wächst, dass Wurzeln spürbar werden und eine innere Quelle zu fließen beginnt: das kann wohltuend sein - auch wenn es gar nicht immer einfach ist und vor allem Geduld erfordert.
Sie üben sich in der Geduld mit sich selbst, sie üben sich in der „Geduld mit Gott" - diesen Ausdruck findet ein zeitgenössischer Theologe aus Tschechien, um vom Glauben zu sprechen. Die Menschen kommen mit dem Geheimnis, das Gott ist und bleibt, an kein Ende. Ihr eigenes Geheimnis und die Widersprüche ihrer Welt lassen ihr Fragen nicht still werden.
Der Theologe Thomas Halik kommt aus einem Land, in dem bis Ende der 80er Jahre der Atheismus gleichsam von oben verordnet war. Ihm ist wichtig, dass nicht nur Glaubende sich in der Geduld der Fragen, „in der Geduld mit Gott üben". Es sind gerade auch Menschen, die ausdrücklich nicht an Gott glauben, die an seiner Existenz zweifeln, die unzufrieden mit dem sind, was andere über Gott sagen und was sie in seinem Namen tun. Auch sie suchen solche Orte und Zeiten der Nachdenklichkeit. Auch sie empfinden es als wohltuend, dem Warten Raum zu geben in der Hoffnung, dass tief in ihnen etwas wächst, woraus sie besser leben können. Auch sie haben den Mut zur Geduld - noch dazu, ohne ihrer Geduld einen Namen zu geben.
Heute richten sich Exerzitien ausdrücklich an beide: diejenigen, die von ihrem Glauben so viel wissen, dass sie darin wachsen wollen, und diejenigen, die lieber bei ihrem Nichtwissen bleiben. Die einen und die anderen sollen sich begegnen und einander darin bestärken, Geduld zu haben. Dafür spricht ein Text, den Gäste im Exerzitienhaus eines deutschen Bistums in ihren Zimmern finden. Es sind Sätze aus einem Brief des Dichters Rainer Maria Rilke an einen jungen Freund: „Ich bitte Sie, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben können. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antworten hinein."

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12381
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