SWR2 Wort zum Tag

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Wie sind wir so geworden, wie wir sind? Das fragt Christa Wolf, an die ich in dieser Woche erinnere. In „Kindheitsmuster" betont sie die Notwendigkeit des Erinnerns. Der Roman ist eine Reise in die Vergangenheit, nicht nur in die Vergangenheit der Christa Wolf oder der Erzählerfigur Nelly, sondern auch eine Reise in die Vergangenheit der Deutschen. Thema des Romans ist die stark autobiographische Figur der Nelly Jordan, deren Kindheit und Jugend im nationalsozialistischen Deutschland, der tägliche Faschismus, der Krieg, die Flucht und der Versuch eines Neuanfangs nach 1945. Die kleinbürgerliche Welt der Jordans ist bestimmt durch Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen von Euthanasie, Konzentrationslager und Krieg.
Christa Wolf schreibt gegen das Nicht-erinnern-Wollen an, will dem Vergessen und Verdrängen entgegenwirken. Am Beispiel der Lebensgeschichte Nellys arbeitet Christa Wolf einen dunklen Abschnitt der Zeitgeschichte auf. Ihre Frage: Wie sind wir so geworden, wie wir sind? weist darauf hin, dass die Bewältigung der Vergangenheit nicht abgeschlossen und nicht abzuschließen ist. Denn: Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.
Warum soll ich mich erinnern? Warum erzähle ich Geschichten aus früherer Zeit? Ich will mich meiner Lebensgeschichte erinnern, weil ich meine Gegenwart, den eigenen Ort im Leben besser verstehen möchte. Wer ich bin, erschließt sich mir durch die Geschichte, die zu mir gehört, die mich geprägt hat. Geschichte ragt immer in das Leben des einzelnen hinein, vielleicht verheißungsvoll für die Zukunft oder auch dunkle Schatten aus der Vergangenheit werfend.
Gedenke der vorigen Zeiten und hab acht auf die Jahre von Geschlecht zu Geschlecht. So heißt es im 5. Buch Mose. Sich seiner Geschichte zu erinnern, gehört auch zur Geschichte des Glaubens. Martin Buber nennt die Bibel eine erinnerte Gotteslehre. Das Volk Israel erinnert sich seiner Geschichte mit Gott, der Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten, dem verheißenen Land. Diese Geschichten sind Erinnerungsgeschichten - wie die Hoffnungsgeschichten Jesu von Nazareth, wie sie in der Bergpredigt, den Gleichnissen und in seiner Auferstehung bezeugt sind. Sie wollen erzählt und immer wieder neu bedacht werden, um  sie vor dem Vergessen zu bewahren.
Erzählte Erinnerungen sind Nachrichten, die sehen und verstehen lernen. So ist Sich-Erinnern (wie) gegen den Strom schwimmen, gegen des Strom des Vergessens.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12362
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