SWR2 Wort zum Tag

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In dieser Woche möchte ich an Christa Wolf erinnern, eine der bedeutendsten deutschen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Mit 82 Jahren ist sie Anfang Dezember in Berlin gestorben. Was bleibt? hat sie einmal gefragt. Ihre Bücher bleiben. Es sind Bücher, in denen Christa Wolf von der Suche nach Sinn spricht, von der Hoffnung auf authentisches Leben. Für mich sind das religiöse Themen, eine Religiosität, die das Ich-Sagen, die Sehnsucht nach Heilwerden und die Individualität des Menschen beinhalten. „Kassandra" ist ein solches Buch. In 25 Sprachen übersetzt, hat es vielen Menschen Orientierung und eine veränderte Sicht auf unsere Welt ermöglicht.
Wenn ich mich an Christa Wolf erinnere, habe ich ein besonderes Bild vor Augen. Es ist im Jahr 1982, im Hörsaal 6 der Goethe-Universität in Frankfurt. Überfüllter Raum, Gedränge, viele auf den Treppen sitzende Zuhörerinnen und Zuhörer. Christa Wolf bahnt sich den Weg zum Rednerpult. Atemlose Stille, als sie beginnt. Wir folgen ihr auf einer Reise zu „Kassandra". Hier wurde deutlich, wie bewusstes Sehen als ein Weg zur Umkehr begriffen werden kann.
Wer war Kassandra? Diese Frage führt Christa Wolf auf die Spur der troianischen Königstochter, einer Priesterin, die die Sehergabe besaß. Sie sagt ihren Landsleuten, den Troern, den Untergang ihrer Stadt voraus, aber niemand glaubt ihr. Wenn ihr aufhören könnt zu siegen, wird diese eure Stadt bestehen. Sie kann das Unheil nicht abwenden. Nach zehnjährigem Krieg der Troer mit den Griechen wird Kassandra als Kriegsbeute verschleppt. Den Tod vor Augen reflektiert sie in Christa Wolfs Erzählung am Löwentor von Mykene ihr Leben, ihr Troia, bedenkt den grausamen Krieg.
Die eskalierende Gewalt in den achtziger Jahren in Ost und West bestimmte Christa Wolfs Auseinandersetzung mit diesem Mythos. Die Themen Gewalt, Unterdrückung und Machtstreben sind zeitlos und haben bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Kassandras prophetische Stimme, ihr bewusstes Sehen der Wirklichkeit reicht bis in unsere Gegenwart als Stimme, die ein Umdenken fordert. Wie sieht es aus?
Es erfordert ein Denken, das die Ehrfurcht vor dem Leben höher einschätzt als Rendite und Profite, wo Machtstreben, Effizienz und wirtschaftliches Wachstums nicht mehr für den einzig möglichen Weg gehalten werden. Der lange Monolog Kassandras, die Reflexion zwischen Vorausschau und der Realität ist auch die Suche nach einer alternativen Lebenswelt. Denn zwischen Töten und Sterben ist ein Drittes: Leben.

 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12360
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