SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Jürgen sabbert beim Essen. Seine Bewegungen sind ruckartig. Jürgen ist spastisch gelähmt.
Er war Teilnehmer auf unserer Schülerfreizeit. Manche mussten sich erst an ihn gewöhnen. Einige hat es geekelt, mit ihm gemeinsam am Esstisch zu sitzen.
Nur bei Silvia war das anders. Silvia mochte Jürgen und Jürgen hatte Silvia in sein Herz geschlossen. Jürgen hat Silvia aufgeheitert, wenn sie launisch war oder traurig. Und Silvia hat mit Jürgen viel zusammen unternommen. Mit der Zeit hat Jürgen die anderen mit seiner Freude angesteckt und mit seiner Lust am Leben.
Ich habe mich gefragt, wie er das geschafft hat. Er hätte doch allen Grund gehabt, mürrisch zu sein, verzagt und unzufrieden. Ich glaube, es hat an Silvia gelegen. Einen Menschen finden, der mir sagt, dass ich ihm wichtig bin und er mich mag, das tut gut. Nicht nur jungen Leuten. Zudem hat Jürgen eine große Zufriedenheit ausgestrahlt. Und das hat an seinen Eltern gelegen: Seine Eltern haben ihn lieb gehabt. Sie haben ihn genommen, wie er ist. Sie haben ihn spüren lassen, dass er für sie wertvoll ist, dass sie ihn nicht missen möchten. Das hat man ihm wiederum abgespürt.
Und dann war da noch etwas anderes. Jürgen hatte einen kindlichen Glauben. Er hat von Jesus erzählt wie von einem Freund. Manchmal hat er auch zu ihm gesprochen. Er hat zu ihm gebetet, hat ihm gesagt, was ihn bedrückt, hat sich bedankt für so viel Schönes, was er auf der Freizeit erfährt.
Irgendwie sind wir alle davon beeindruckt gewesen. An Jürgen hat mich das Leitwort der Evangelischen Kirche für dieses Jahr erinnert. Es ist aus der Bibel und heißt:
„Jesus Christus spricht: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig."
Dieser Satz ist nicht sofort einsichtig. Man denkt ja eher, dass ein Mensch mächtig ist, wenn er stark ist oder gesund oder klug oder sich gut ausdrücken kann. Aber dann erinnere ich mich an Jürgen. Er hat beim Essen gesabbert. Er hatte seine Muskeln nicht unter Kontrolle. Er konnte sich nicht immer verständlich ausdrücken. Wir mussten ihn oft zurück fragen, um zu verstehen, was er gesagt hat.
Jürgen ist behindert. Aber gleichzeitig ist er stark. Er strahlt Freude aus und Lust am Leben. Er hat uns mit seiner Freude alle angesteckt. Silvia ist die erste gewesen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12317
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