SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Es heißt: Tränen schmecken bitter. Sie haben oft mit Schmerzen zu tun. Und die mag „man" oder soll „man" in der Regel nicht zeigen. Was aber, wenn Tränen ausbleiben? Wie bitter ist das! Wenn ich niemals weinen kann.
Wenn keine Schmerzenstränen und auch keine Freudentränen mehr fließen.
Wenn ich immer gefasst bin.
Wenn ich vor meinen Kindern - der Frau - den Freunden und Kollegen meine Tränen verstecke, wegdrücke. Wenn mir nie mehr zum Heulen zu Mute ist bei alten Bildern, Musiken, bei Erinnerungen an gelungenes und versäumtes Leben.
»gib mir die gabe der tränen gott«.
So beginnt ein Gebet von Dorothee Sölle (1929-2003).*
Das ist mir unter die Haut gegangen.
»gib mir die gabe der tränen gott«.
In Südafrika - so hat mir ein Freund vor Jahren erzählt - da hat er bei einem Gottesdienst erlebt, wie ein ganzes Dorf am Sonntagmorgen zusammen gekommen ist und alle haben erst einmal geweint. Alle miteinander - beinahe eine Stunde lang. Um danach in größter Freude und mit großem Halleluja Gottes Gegenwart in ihrer Mitte zu feiern.
Und unlängst hat mir ein Drogenabhängiger - von seiner Erfahrung erzählt - und mir direkt ins Gesicht gesagt: „Tränen reinigen. Sie müssen heulen. Nur so kommen Sie weiter."
Ich habe lange Tränen oft versteckt, in mir nicht aufkommen lassen.
Inzwischen rühren zu Tränen nicht nur Ängste und Sorgen.
Es können auch Songs von früher sein, oder auch schmerzhafte Irrtümer, an die ich mich erinnere, die zwar hinter mir liegen, aber einst Versöhnung verhindert haben.
Ich will Tränen zulassen:
Sie holen mein Leben zurück.
Sie decken verschüttete Empfindungen auf.
Sie öffnen mich für Sehnsüchte.
Tränen lösen meine übermäßige Selbstkontrolle.
Sie befreien mich von dem Deckel auf meinem Leben, den ich selber installiert habe.
Sie können helfen und heilen: dazu ermutigt mich dieses Gebet von Dorothee Sölle:

 „Gib mir die gabe der tränen gott
... Führe mich aus dem lügenhaus
... schleif meine intelligente Burg
... Reinige mich vom verschweigen
... erinnere mich an die tränen der kleinen studentin in göttingen
wie kann ich reden, wenn ich vergessen habe wie man weint
wie kann ich reden wenn meine tränen nur für mich sind
Gib mir die gabe der tränen gott...
... gib mir das wasser des lebens."

Ich selber will noch näher an diesem Wasser des Lebens bauen.
Gott, gib mir die Gabe der Tränen!

* Dorothee Sölle - fliegen lernen, gedichte, Berlin 1979, S.35

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12295
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