SWR2 Wort zum Tag

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Mainz-Kostheim, Maaraue
Die letzte Ecke der Maaraue an der Mündung des Mains in den Rhein war bis vor kurzem noch ein richtiger Geheimtipp. Zwischen Mainz-Kostheim und Gustavsburg schiebt sich eine Landzunge zum Rhein. Ein unbefestigter Weg führte von einem mit Schlammpfützen übersäten Parkplatz in Schlängellinien zur Spitze. Einmal abgesehen vom Johannistag, wenn sich auch an diesem abgelegenen Ort etwa 2 Dutzend Menschen einfanden, um das Spektakel des Feuerwerks im Rhein anzuschauen, konnte ich hier in Ruhe und ungestört sitzen, den Sonnenuntergang über Mainz betrachten, je nach Lust und Laune ein Glas Rotwein trinken oder einfach die Seele baumeln lassen. Ich stellte mir vor: Sicher hat hier schon zu Römerzeiten ab und an jemand gesessen, vielleicht ein Germane die römische Stadt ausgespäht. Die Alten erinnern sich noch an den Winter, als der Rhein einmal zugefroren war und man zu Fuß von Mainz hierher laufen konnte. Der Fluss hat so viele Menschen-Schicksale gesehen. Ein Fluss ist majestätisch, königlicher noch als der Schwedenfürst, der von hier aus Mainz belagerte. Der Rhein hat die siegreichen und die geschlagenen Soldaten gesehen, hat Liebende an seinem Ufer geduldet und spielende Kinder, hat Schiffe getragen und viele Enten und Schwäne. Ich beobachte, wie sich die Wasser von Main und Rhein vermischen. Auch meine Jahre fließen dahin, irgendwann werde ich nicht mehr sein, mein Leben in Gottes Ewigkeit einfließen. Merkwürdig: Während ich ins Wasser blinzele, finde ich meine Endlichkeit gar nicht mehr beängstigend, gewinne ich Distanz zu den großen und kleinen Dingen, die mich beschäftigen. In den Rhein zu schauen ist wie eine Meditation, oder wie ein Gebet. Bescheiden macht mich der Fluss: Ich bin nur ein winziger Augenblick im Vergleich zu ihm, der schon vor Millionen Jahren seine Bahn zog. Scheinbar immer derselbe, obwohl ich doch weiß, dass es nicht mehr dieselben Wassertropfen sind, die zu Römerzeiten geströmt sind. Geheimnisvoll ist so ein Fluss, und diskret. Man kann sich nur denken, was er erlebt hat, er erzählt nichts.
Meinen Platz an seinem Ufer allerdings gibt es schon jetzt nicht mehr, jedenfalls nicht mehr so, wie er einmal war, verschwiegen und scheinbar fast ganz für mich allein. Im Zuge eines Landschaftsverschönerungsprogramms wurden die Hecken gerodet, der Schlammweg geteert, Bänke aufgestellt. Es sieht jetzt alles ganz aufgeräumt aus. Viel zu aufgeräumt, als dass es zu meinem Leben passen würde.
Schade, habe ich gedacht, als die Bagger anrollten. Ich muss mir wohl einen anderen Platz zum Träumen suchen.

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