SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Ein gnadenreiches Jahr 2012 wünsche ich Ihnen. Ein Neujahrswunsch, der ein wenig aus der Mode gekommen ist. Denn was heißt schon Gnade?
Eine biblische Geschichte hilft diesem altmodischen Begriff auf die Spur zu kommen. Jakob, einer der wichtigsten Männer in der Geschichte Israels hat als junger Mann seinem Bruder Esau ganz böse mitgespielt. Er hat ihn um sein Erbe betrogen. Nach langen Jahren der Trennung begegnen sich die beiden Brüder. Jakob hat große Angst vor dieser Begegnung, denn Esau hatte allen Grund sich zu rächen. Aber Esau läuft ihm entgegen, umarmt ihn und fällt ihm um den Hals. Jakob - so drückt es die Bibel aus - findet Gnade in den Augen seines Bruders. Gnade ist das unverdiente Wohlwollen des Mitmenschen, das Ansehen, das er mir schenkt. Deshalb der Ausdruck "Gnade in seinen Augen finden." Ich tue mich oft schwer mit der Gnade. Ich will nichts geschenkt haben, ich will mir alle ehrlich verdienen. Aber es gibt keinen Anspruch auf das Wohlwollen des andern. Hab ich es mir verdient, dann ist es kein Wohlwollen mehr, sondern die Begleichung einer offenen Rechnung. Mit der Gnade Gottes verhält es sich ebenso. Auch sie kann ich mir nicht verdienen, sondern muss sie mir schenken lassen. Vielleicht so wie Jakob. Er sagte zu seinem Bruder Esau, nachdem er in dessen Augen Gnade gefunden hatte: "Ich habe dein Angesicht gesehen wie man das Angesicht Gottes sieht, und du bist mir wohlwollend begegnet." (Gen 33,10). Angesehen sein vom Mitmenschen und von Gott, das heißt Gnade. Wenn ich genug Ansehen geschenkt bekomme, brauche ich nicht darum zu kämpfen. Deshalb wünsche ich Ihnen ein gnadenreiches Jahr 2012. Mögen sie in diesem Jahr viel Ansehen, viel Gnade von ihren Mitmenschen geschenkt bekommen. Und mögen sie die Kraft haben, selbst viel Ansehen an andere zu verschenken.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12208
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