SWR2 Wort zum Tag

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Um zu verstehen, wer man ist, braucht man auch den Blick von außen. Auf das eigene Land, und auf sich selbst.
Für den Blick auf unser Land war für mich in diesem Jahr eine Reise nach Danzig wichtig. Danzig: Vor über siebzig Jahren haben hier deutsche Truppen den Zweiten Weltkrieg entfesselt. 1945 schien dann die Jahrhunderte lange deutsch-polnische Geschichte am Ende, in der Katastrophe.
Wie Danzig auch. Die Stadt wurde bis zum bitteren Ende von deutschen Truppen verteidigt, schließlich war sie zu fast 90 Prozent vernichtet. Als ich im Danziger Rathaus vor den Fotos aus dieser Zeit stand, habe ich erneut gespürt: Sie und ich, wir sind Erben unserer Väter und Großväter. Ich kann auch 70 Jahre später nicht Deutscher sein, ohne diesen Blick auf uns von jenseits der Grenze.
Aber ein Zweites habe ich in Danzig auch gespürt:
Wie willkommen man als Deutscher in dieser Stadt heute ist. ‚Das ist doch nichts Besonderes. 70 Jahre sind eine lange Zeit. Menschen vergessen', sagen Sie? Aber das ist es in Danzig nicht. Die Gastfreundlichkeit, die man dort wohltuend spürt, kommt nicht, weil man vergessen hätte. Im Gegenteil, die Geschichte ist präsent.
Heißt das nicht, dass Versöhnung gelungen sein muss? Von Seiten vieler Deutscher, die damals aus der Stadt fliehen mussten und sich heute wieder an ihr freuen. Vor allem aber auch von Seiten der polnischen Bürger Danzigs. Mir scheint das wichtig für unser deutsches Selbstverständnis: Dass man uns versöhnlich ansieht, ohne zu vergessen.
So ein versöhnter Blick von außen tut gut. Auch auf einen selbst. Beim Rückblick auf das vergangene Jahr z.B. Weil der versöhnte Blick mich nicht meinem Urteil allein überlässt.
Wenn ich allein auf mein Jahr zurückschaue, kann es sein, dass ich entweder zu wohlwollend bin und meine Schatten vergesse. Oder aber, dass mein Blick zu negativ ist. Weil so viel da liegt, was noch nicht versöhnt ist. Oder womit ich mich noch nicht versöhnt habe.
Als Christ glaube ich, dass der eigene Blick wichtig ist, aber nicht allein entscheidend. Sondern, dass Gottes versöhnlicher Blick meinen umfängt.
Gott übersieht nichts und vergibt. Der Dichter Jochen Klepper hat das in einem Lied zur Jahreswende beinahe betend gesagt:
„Der Du die Zeit in Händen hast, Herr, nimm auch dieses Jahres Last und wandle sie in Segen", so fängt es an. Und in der zweiten Strophe heißt es. „Da alles, was der Mensch beginnt vor seinen Augen noch zerrinnt, sei Du selbst der Vollender. Die Jahre die du uns geschenkt, wenn Deine Güte uns nicht lenkt, veralten wie Gewänder."

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