Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Vielleicht kennen Sie das Ritual. Jedes Jahr an Heiligabend: die Kirche rappelvoll bis auf den letzten Stehplatz, der Gottesdienst fast zu Ende.
Dann am Ende, nach dem Segen, gehen alle Lichter aus bis auf die am Weihnachtsbaum. Und alle singen. Oh du fröhliche, oh du selige gnadenbringende Weihnachtszeit. Welt ging verloren, Christ ist geboren. Freude dich, freue dich, oh Christenheit.
Ich erinnere mich an Heiligabende, an denen gestandene Männer dabei geweint haben. Muss man das verstehen? Wenn man so rührselig wird, obwohl man das gar nicht will?
Man muss nicht, finde ich. Es ist ja doch schon ein Wunder für sich, wenn wildfremde Menschen drei Strophen lang mal ihre Empfindsamkeit miteinander teilen.
Allerdings- mir macht etwas mehr Freude, wenn ich es verstehe. Dieses wunderbare Lied „Oh du fröhliche" stammt von einem Mann, der sich Anfang des 19. Jahrhunderts um verwahrloste Kinder gekümmert hat. Kinder ohne Eltern und ohne Zuhause. Von denen hat es damals wegen der Kriege viele gegeben. Johannes Falk hat dieses Lied 1813 getextet: Welt ging verloren, Christ ist geboren.
In diesem Jahr ist ihm tatsächlich seine Welt verloren gegangen. Vier seiner Kinder sind im Krieg umgekommen. Aber als der die „Gesellschaft der Freunde in Not" gegründet hat, ist er irgendwie noch einmal geboren worden. Nur eine Strophe hat Johannes Falk getextet. Die anderen beiden Strophen stammen von Heinrich Holzscheiter.
Dem ist mit 13 Jahren auch seine Welt verloren gegangen. Da beging sein Vater Selbstmord und seine Mutter hat ihn verlassen. Aber Johannes Falk hat ihn inspiriert und hat ihm geholfen, seinen Weg zu finden. Also textet er die zweite und dritte Strophe.
Welt ging verloren, Christ ist geboren. Dieses Lied verdanken wir zwei Männern, denen die Welt verloren gegangen ist. Und die trotzdem ein neues Leben und ihre Freude wiedergefunden haben. „Oh du fröhliche, oh du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit. Und jetzt wissen Sie vielleicht auch, dass Ihre Rührseligkeit nichts anderes ist als die tränenreiche Ahnung, dass man wirklich Welt verlieren und wiederfinden kann. Nicht nur zur Weihnachtszeit.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12152
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