SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Wenn man sich ins Auto setzt und nach einigen Kilometern im Krankenhaus wieder aufwacht, da merkt man, wie endlich das Leben ist und wie gut man daran tut, das jeden Tag zu bedenken. Mir ging das mit zweiundzwanzig Jahren auf. Da hatte ich einen schweren Autounfall. Auf dem Weg nach Paris. Mit über hundert Sachen war mein Freund gegen einen Baum auf einer Landstraße gefahren. Von dem Auto blieb nicht mehr viel übrig, wir mussten ins Krankenhaus und hatten wirklich Glück im Unglück: denn es gab nur Beinbruch, Gehirnerschütterung, ein paar ausgefallene Zähne und Rippenbrüche. Am dritten Tag stand eine Schwester im Nonnenhabit und mit einem Häubchen auf dem Kopf an unseren Krankenbetten. Wie alt wir seien, fragte sie und wie das alles passiert sei. Dann hob sie den Zeigefinger, neigte bedenklich den Kopf und sagte: „Das war ein Fingerzeig Gottes."
Fingerzeig Gottes - das war ungefähr das allerletzte, woran wir damals gedacht hätten. Das war ganz weit ab von dem, was damals in unser Weltbild passte. Gott nicht, der war für uns in den Siebzigern so etwas von out. Und sein Finger samt Fingerzeig gehörte für uns der untergegangenen, erbaulichen Welt der Nachkriegszeit an. Natürlich spöttelten wir damals darüber, dass Gott mit einem Finger fast das Leben zweier junger Menschen ausgelöscht und ein Auto ramponiert hatte. Der Mensch denkt, Gott aber lenkt war ungefähr das letzte, an das wir damals glaubten. Wir hatten einfach in der Nacht davor nicht genug geschlafen. Man fährt nicht übermüdet Auto. Und so war der Unfall passiert, da war eigentlich nicht viel dran zu deuten.
Gottes Fingerzeig - vergessen aber habe ich diese Wendung nie. Sie gab dem, was man einfach nur als einen Zufall bezeichnen konnte, einen Sinn. Sie zeigte nicht rückwärts, wie man das alles hätte verhindern können. Sie ließ nach dem Sinn fragen, den das, was wir da erlebt hatten, für unser weiteres Leben haben könnte: Welchen Sinn kann es haben, hier jetzt demoliert im Bett zu liegen und gerade mit dem Leben noch einmal davon gekommen zu sein? Was macht man mit dem Leben, das noch einmal verlängert wurde? Um einen neuen Tag? Ich weiß noch, wie mir damals schlagartig klar geworden ist: Wie endlich unser Leben ist, was für fragile Geschöpfe wir Menschen sind. Und dass ich auf einmal meinen Konfirmationsspruch verstand: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden."

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12081
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