Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

„Wie viel verdienen Sie eigentlich?" Als er das fragte, war ich doch wirklich verblüfft. Wir saßen bei einem offiziellen Essen und er hatte allerlei von sich erzählt. Wie das Haus umgebaut worden war, welche Marke Motorrad er fahre, welche Urlaube geplant seien, wie schön das Leben als Pensionär sei, dass er schon wieder einen Artikel geschrieben habe für eine Zeitschrift - ein bisschen ein Angebergespräch. Oder eher eine Selbstdarstellung; für mich hatte er sich nicht interessiert. Meine Aufgabe sollte sein, ihm bewundernd zuzuhören. Und als wir dann auf das Honorar für seinen Artikel kamen, fragte er ganz direkt danach. Was ich verdiene. Und wo ich wohnen würde und was ich dafür bezahlen müsste. Es war von seiner Seite aus kein ernsthaftes Interesse zu spüren, er wollte nur einordnen, in welche Schublade er mich zu stecken hätte. War ich eher seinesgleichen oder spielt er in einer anderen Liga? Wie die meisten Menschen erzähle auch ich gern etwas von mir. Ich freue mich, wenn jemand Interesse an mir hat, mich nach meiner Arbeit fragt oder meinem Wohlergehen. Aber ich lasse mich nicht gern ausfragen. Das Tischgespräch an diesem Abend habe ich als unangenehm empfunden, da ging es nicht um Austausch und Anteilnahme, sondern darum, die Neugier zu befriedigen.
Neugier - das ist schon kein schönes Wort. Die Gier auf Neues, auf Information, auf Klatsch und Tratsch. Dagegen Interesse - das kommt aus dem lateinischen. „Inter"  steht für zwischen, inmitten und „esse"  heißt sein. Wenn ich also Interesse zeige an jemandem, dann nehme ich teil an seinem Leben, seinen Gedanken und Erfahrungen. Der Neugierige bleibt außen, er schaut zu, will vielleicht einschätzen, beurteilen. Der, der sich interessiert, sucht den Kontakt, er fragt nach, er zeigt Nähe und Anteilnahme. Anteilnahme, das ist glaub ich ein guter Ausdruck für Gottes Einstellung den Menschen gegenüber. Wir Christen glauben, dass Gott  sogar den Himmel verlassen hat, um den Menschen nahe zu sein. Und was er uns schenkt, ist Anteilnahme, nicht Neugier. Deshalb kann ich auch ganz von Mensch zu Mensch mit ihm reden, wenn mich das Leben beutelt. Er interessiert sich für mich. Manche nennen das „beten".

 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12006
weiterlesen...