SWR2 Wort zum Tag

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Der 9. November ist ein Datum von äußerst gegensätzlicher Bedeutung. Er erinnert einerseits an einen absoluten Tiefpunkt deutscher Geschichte, andererseits verbinden sich mit ihm aber auch Erinnerungen an Befreiung, an Neues, Hoffnungsvolles. Ich spreche von der Nacht des 9. November 1938, als überall in Deutschland Synagogen brannten, die Häuser jüdischer Mitbürger geplündert und verwüstet und ihre Bewohner gedemütigt, misshandelt und oft auch ermordet wurden. Schon seit mehreren Jahren waren jüdische Nachbarn, Kollegen und Freunde von einst zunehmend schikaniert und ihrer Rechte beraubt worden. Die Nacht des 9.November 1938 war dann der Auftakt zu einem staatlich angeordneten Morden, dem rund sechs Millionen Juden zum Opfer fielen. Wie konnte es geschehen, dass dabei ungezählte Menschen zu Tätern und Mittätern wurden und schreiendes Unrecht für Recht halten konnten? Ich spreche aber auch vom 9. November 1989, als sich die Mauer mitten durch Berlin und das ganze Land öffnete - für viele war sie eine tödliche Grenze gewesen, 28 Jahre lang. Der unmittelbare Anlass schien ein Missverständnis zu sein, fast ein Zufall. Aber die Zeit war reif, dass daraus ein historisches Ereignis wurde. Die Sehnsucht nach Freiheit zerbrach die Dämme, hinter denen in 40 Jahren kommunistischer Diktatur ein Volk eingegrenzt und reglementiert worden war. Mutige Menschen kamen endlich zu ihrem Recht: evangelische und katholische Christen, Bürgerrechtler, Menschen mit Zivilcourage, die sich nicht vor der Anmaßung der Macht gebeugt hatten, vor der Vergewaltigung des Denkens, vor dem Auftreten der Lüge als Wahrheit. Sie hatten dem Willen zur Freiheit und dem Ringen um Menschenrechte den Vorrang gegeben vor der persönlichen Sicherheit. Sie mussten Repressalien ertragen und waren sicher manchmal sehr einsam. Der 9. November lässt uns tief in menschliche Abgründe blicken, und ebenso macht er die unzerstörbare Würde des Menschen sichtbar und seine Kraft, trotz vieler Mühen in eine bessere Zukunft aufzubrechen. Elend und Größe, Leid und Hoffnung, schwere Schuld und bewundernswerte Gewissensstärke - diese Gegensätze machen sich an den geschichtlichen Erinnerungen zum 9. November fest.  Sie gehören aber auch als stets präsente Möglichkeiten zu unserem Leben. Beides tragen wir in uns. Manchmal trennt nur eine schmale Zone das eine vom anderen.  Das Gedenken des 9. November soll uns davor bewahren, zu verdrängen und zu vergessen. Es will uns auch ermutigen, der Menschlichkeit in uns so viel Raum wie möglich zu geben.

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