Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Muss ich in der Religion eigentlich alles glauben und verstehen? Drei Geschichten aus drei Religionen.
Sie ist auf dem Weg in den Gottesdienst. Die alte jüdische Dame in einer Seniorenresidenz in Frankfurt. 96 ist sie. Es ist Sabbatabend.  Der Rabbi hat sie eingeladen.  Seit sie da wohnt, geht sie immer in den Sabbatgottesdienst. Dem Rabbi zuliebe, sagt sie und zwinkert mit den Augen. Ein Fernsehteam begleitet sie bis zur Tür. Ob sie oft betet, wird sie gefragt. „Beten? So ein Quatsch. Ich gehöre einfach dazu. So ist das Leben." Sagt's, verschwindet in der Synagoge und lauscht dem fremden vertrauten Klang der hebräischen Worte. Vielleicht wird sie einige mitmurmeln. Sie weiß nicht, wie das geht: beten. Sie tut's einfach. Weil sie dazu gehört. Das erleichtert das Herz.
In seinem Roman „Tausend strahlende Sonnen" erzählt  Khaled Hosseini von Mulla Faizallah in Afghanistan: Der gibt der kleinen Mariam Koranunterricht. Einmal sagt er ihr, dass er den Sinn der arabischen Worte im Koran eigentlich nicht verstehe. Aber er liebe ihren Klang. Sie trösten ihn und erleichtern sein Herz. „Auch dich werden sie trösten, Mariam', sagt er. ‚Du kannst sie aufrufen, wenn du Kummer hast. Und du wirst nicht enttäuscht sein, denn Gottes Worte täuschen nie, mein Mädchen.'"
Szenenwechsel: Mittagsgebet in meiner Kirche in Frankfurt. Mehrere Wochen hintereinander dieselben Gebete und Lieder. Viele kenne ich auswendig. Ich bin mit meinen Gedanken ganz woanders. Spreche die Worte irgendwie mit. Verstehe nicht wirklich. Wie geht das eigentlich - beten? Manchmal weiß ich es nicht. Aber ich tu es trotzdem. Der Klang erleichtert mein Herz. Ich gehöre dazu. So ist das Leben.
Drei Geschichten aus drei Religionen. Judentum, Islam, Christentum.  Alle haben Worte, die wir aufrufen können, wenn wir Kummer haben. Worte, die wir nicht immer verstehen oder glauben müssen. Der Theologe Fulbert Steffenski meint: „Sie sind die Notsprache, wenn uns das Leben die Sprache verschlägt." Auswendig gelernte Worte. Deren Klang uns tröstet. Gut, wenn wir solche Worte haben.

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