SWR3 Gedanken

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„Engel im Fels" steht unter der Postkarte auf meinem Schreibtisch. Die Karte zeigt einen Stausee im Tessin. Stahlblauer Himmel, das Wasser leuchtend grün, dahinter die Staumauer - natürlicher Fels. Ich kann die einzelnen Gesteinschichten sehen, Wind und Wetter haben den Fels ausgewaschen, schichtenweise Steinmasse abgetragen. Ein richtiger Bogen hat sich so in die Mauer eingefräst. Hat was von einem Himmelsbogen. Und aus der Entfernung des Fotografen erkenne ich in diesem Bogen eine Gestalt. Sie sieht aus wie eine menschliche Figur, sie hat die Arme ausgebreitet aber eigentlich sieht es aus als hätte die Gestalt Flügel.  Ein ‚Engel im Fels'. Ein Engel, den die Zeit hervorgebracht hat. Jetzt füllt er seinen Felsbogen aus - ein starkes Bild.
Von dem Foto angeregt denke ich über mein Leben nach. Bei mir ist auch einiges im Laufe der Zeit ausgewaschen, abgetragen, abgewetzt worden! Wie viele Spuren hat der Fluss des Lebens an und in mir hinterlassen.
Das Bild vom Engel im Fels bringt mich auf eine Idee: Kann es sein, dass manche schmerzhaften Erfahrungen auch eine positive Seite haben? Weil ich in so mancher Krise erlebt habe, wie da etwas in mir aufgewacht ist, in mir groß wurde, mich stark gemacht hat. Trotz erlebter Niederlagen oder vielleicht gerade deswegen. Vielleicht gehört das zu unserem Leben - etwas verlieren müssen: Freundschaften, Träume, Illusionen - damit wir erkennen, welche Kraft uns im Innersten trägt.
Den Engel im Fels -  den gibt es nicht nur am Tessiner Stausee. Ich kann ihn auch in meinem Leben erkennen. Und wenn ich das nächste Mal von der Wucht des Lebens überrascht werde, hilft mir hoffentlich ein Blick auf die Postkarte. Der Engel im Fels ist schließlich einiges gewohnt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=11834
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