SWR2 Wort zum Tag

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Die Gesten, mit denen Menschen das Heilige ehren, können sehr unterschiedlich sein. Sie verneigen sich, beugen die Knie, sie werfen sich zu Boden mit ihrem ganzen Körper. Andere bringen ihre Ehrfurcht zum Ausdruck, indem sie aufrecht stehen, die Hände erheben, den Blick nach oben zum Himmel richten.
Pilger, die nach Santiago de Compostela im Nordwesten Spaniens kommen, werden dort zu beidem eingeladen. Beim Hauptaltar der Kathedrale, die dem heiligen Jakobus geweiht ist, führt eine kleine Treppe hinunter in die Krypta. Dort steht ein Silberschrein mit den Gebeinen des Heiligen, vor dem die Betenden kniend verweilen können. Eine zweite Treppe führt hinauf. Über dem Altar befindet sich die lebensgroße Büste des Jakobus. Die Treppe führt die Betenden so hinauf, dass sie hinter die Büste des Heiligen zu stehen kommen, auf gleichem Niveau wie er, und mit ihm gleichsam den Blick nach Westen richten, in die Weite des Kirchenraums. Einige berühren und küssen die Büste des Heiligen; andere legen ihre Hände auf seine Schultern. Aufrecht stehen sie hinter ihm, berühren ihn, gleichsam als den, der vor ihnen geht, ihnen voraus. Es sieht so aus, wie wenn sie seinen Schritten folgen wollten. Diese Geste bleibt mir in Erinnerung. Ich denke dabei an einige Kirchen, vor allem in Südeuropa, bei deren Betreten man  Heiligenfiguren begegnet, die an erreichbaren Stellen ganz abgegriffen sind. - So viele  Menschen haben beispielsweise Antonius, Petrus, Judas Thaddäus berührt, dass deren Hände oder Füße glatt geworden sind. Es ist ihnen vertraut, Heiligenfiguren zu berühren, selbst wenn sie von der Bedeutung der Heiligen in der katholischen Kirche oder gar von deren Credo und Lehre kaum etwas wissen.
Wie anders ist es dagegen, wenn sie eingeladen werden, einen lebendigen Menschen zu berühren, ihm oder ihr die Hand auf die Schulter zu legen! Dann machen sich oft Scheu und Reserve bemerkbar. Warum den Nachbarn, die Nachbarin berühren, die Frau, den Mann nebenan, die wir vielleicht gar nicht kennen? Weil sie die wahren Heiligen sind! Der Figur des heiligen Jakobus in Santiago die Hände auf die Schultern legen. Diese Geste lässt mich daran denken, dass die Heiligenfigur für den Menschen steht: Der wahre Heilige ist der lebendige Mensch.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=11709
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