Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Wie schön, dass Du Dir einen ganzen Tag frei genommen hast!" sagt der Freund. Wir sitzen in einem Straßencafe und genießen die Herbstsonne.
Er hat gerade eine Chemotherapie hinter sich und ist sichtlich gezeichnet von seinem Krebs. Ich bin gezeichnet von durchwachten Nächten am Schreibtisch.
Er schaut mich besorgt an. „Du hast mal wieder viele Termine gehabt. „- „Ach,  was sind schon meine Termine angesichts der Ewigkeit!" Sage ich und beiße mir auch schon auf die Zunge.
Fast 20 Jahre sind wir schon befreundet, haben über alles Mögliche schon geredet, aber jetzt weiß ich nicht, wie ich es sagen soll. Wie viel er mir bedeutet. Was ich ihm alles verdanke. Und dass er einen festen Platz in meinem Herzen hat- sozusagen einen Fensterplatz mit bester Aussicht über mein Seelengelände.
„Ja, du hast recht," sagt er und lacht. „Was sind schon die ganzen Termine angesichts der Ewigkeit.  Ich hab meine alten Terminkalender alle weggeworfen. Schon komisch, was mir mal wichtig war. Jetzt ist das anders. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie wenig man wirklich braucht."
Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich brauche noch viel. Zeit, zum Beispiel, Zeit mit ihm. Dieses Zusammenhocken und tolle Ideen haben. Dieses stille Einverständnis. Diese Verbundenheit, die uns Monate der Trennung erleben lässt, als wäre es nur ein Tag gewesen. Diese Freundschaft.
„Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden." So heißt es in einem Psalm. Hier in diesem Straßencafe verstehe ich zum ersten Mal, warum man die wahre Klugheit nicht aus Büchern lernen kann. Dass es etwas mit der Beziehung zu Gott zu tun hat, ob man Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden kann.
Weil das nur im Austausch mit einem lebendigen Gegenüber geht. Eins, das mich liebt und dem ich wichtig bin. Den Tod kann ich nur von der Liebe her verstehen. Tod und Liebe gehören zusammen.
„Weißt du," sagt er, „ab und zu fahr ich raus aufs Land, stelle mein Auto auf eine Wiese, leg mich flach auf den Boden und schaue in den Himmel. Hast du schon mal richtig in den Himmel geschaut? Du glaubst gar nicht, wie blau der sein kann. Der Himmel.

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