Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Tom ist 16 Jahre alt. Ich begegne ihm in der Schule. Sein Haar ist gefärbt, auf der einen Seite lang und auf der anderen kurz. Er geht in die 9. Klasse, kommt aber nur unregelmäßig. Er hat keine Lust auf Schule und erst recht nicht für den Religionsunterricht. Er sitzt nur da, sagt nichts. Er macht zu. Mit seiner Gestik und seiner Körperhaltung gibt er mir klar zu verstehen: Du kannst mich mal, lass mich in Ruhe.
Für ihn bin ich der Mann von der Kirche mit den frommen Sprüchen. In seinem Erfahrungsfeld kommt Gott und Kirche nicht vor. Ihm ist der gute, väterliche Gott, den ich erlebe und an den ich glaube, noch nie begegnet. Dass ein Vater auch gut sein kann, hört sich in seinen Ohren wie Töne aus einer anderen Welt an. Sein Vater kommt nur selten nach Hause und wenn, dann ist er betrunken. In einem halben Jahr wird Tom aus der Schule entlassen. Ob er den Abschluss schafft, ist ungewiss. Er macht zu wenig dafür. Darauf angesprochen meint er nur: „Was soll's, ich habe ja doch keine Chance." Eine Lehrstelle hat er nicht in Aussicht und weiter auf die Schule zu gehen, ist für ihn eine ätzende Vorstellung. Die Appelle, sich zusammenzureißen, regelmäßig in die Schule zu kommen und zu lernen, prallen an ihm ab. Ich fühle mich ohnmächtig. Er braucht keine frommen Worte, was er braucht ist eine Lehrstelle mit einem Meister, der viel Geduld und das richtige Händchen für ihn hat. Tom ist kein Einzelfall. Neben den aufstrebenden, leistungswilligen und erfolgreichen jungen Leuten, gibt es auch die, die einfach nicht klar kommen in dieser Welt, die aufgeben wollen, bevor sie angefangen haben. Was sie brauchen, sind Menschen, die ein Herz auch für die Schwachen und Schwierigen haben. Die sich auf einen solchen Typen wie Tom einlassen. Einfach weil auch er eine Chance  verdient, einfach weil er - wie wir alle - ein Geschöpf Gottes ist.

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