Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Jom Kippur" steht heute in meinem Kalender. War das nicht ein Krieg? wird mancher überlegen. Dabei hat dieser höchste jüdische Feiertag erst mal gar nichts mit Gewalt und Streit zu tun, sondern im Gegenteil: mit Frieden. Wörtlich aus dem Hebräischen übersetzt heißt er: „Tag der Versöhnung". Trotzdem: Politisch-historisch verbindet sich mit Jom Kippur tatsächlich Gewalt: 1973 nützten Ägypten und Syrien die Feiertagsruhe in Israel zum Überraschungsangriff auf das Land, der Jom Kippur-Krieg brach aus.
Israel ist besonders verletzlich an diesem Feiertag, am Tag der Versöhnung. Denn gläubige Juden begehen ihn mit strengem Fasten und Gebetszeiten in der Synagoge. In Israel kommt an diesem Tag das öffentliche Leben völlig zum Erliegen: Fernsehen und Radio unterbrechen ihre Programme, die Straßen sind autofrei, Geschäfte, Kinos und Lokale haben geschlossen. Jom Kippur ist der „Tag heiligster Ruhe", der „Sabbat der Sabbate". Losgelöst vom Alltagstreiben, soll der Mensch um Vergebung bitten für seine Sünden, und er soll sich mit Gott und den Menschen versöhnen. Ein ganzer Tag für die Versöhnung: Ich finde das eine ziemlich faszinierende Idee, nicht nur für Juden heute. Wie viel Streit gibt es zwischen Gott und Mensch und natürlich: zwischen Menschen. An einem Samstag wie heute, am Beginn des Wochenendes werden es möglicherweise einige ganz deutlich spüren: Diese oder jene Freundin ruft nicht an - oder der eigene Sohn. Weil man sich verkracht hat, mehr oder minder offensichtlich. Manchmal ist der Grund kaum noch zu nennen. Aber das Zerwürfnis ist da, und es tut in der Seele weh, meistens auf beiden Seiten. Aber Versöhnung, ein erster Schritt, ein erster Anruf: Das ist schwer. Und es macht auch verletzlich, wie Jom Kippur: Wer sich versöhnen will, macht sich angreifbar. Trotzdem: Es lohnt sich, Versöhnung zu riskieren. Denn, so erzählt schon die Bibel: Versöhnung, die kann ein richtiges Fest werden. Es kann unbeschreiblich froh machen, wenn sich Zerstrittene wieder in den Armen liegen. Vielleicht passiert das ja heute mancherorts, am Tag der Versöhnung.

 

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