Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Wir haben einen Weinstock im Vorgarten, voll mit üppigen Trauben, die hängen nur so über den Zaun, dass es eine Pracht ist. - Saftige, blaue Weintrauben, eine wahre Verlockung für jeden, der daran vorbeigeht.
Vor ein paar Tagen komme ich mit dem Auto nach Hause, da sehe ich eine Frau, die nascht von meinem Weinstock. Ich kurble das Fenster runter und sage:
„Die sind gut, nicht wahr? Nehmen Sie sich davon, soviel sie tragen können. Wir schaffen das sowieso nicht."
Sie sieht mich an und läuft eilig davon. Das verstehe ich nicht. Ich habe sie wirklich freundlich angesprochen. Aber womöglich fühlte sie sich ertappt und dachte, dass ich sie veräpple. - Was kann man da machen?
Ich schreibe auf ein großes Plakat: Pflücken erlaubt und gerne gesehen!
Das hefte ich für jedermann sichtbar an den Zaun. Mal sehen, was jetzt geschieht. Aber, nicht zu glauben: es geschieht gar nichts. Ich bin richtig enttäuscht. Ich dachte: jetzt wird da ordentlich geerntet! Stattdessen habe ich den Eindruck, es wird weniger genascht, denn je. Wittert denn jeder gleich eine Falle, wenn es mal etwas umsonst gibt?
Zwei Tage später komme ich wieder mit dem Auto nach Hause. Da steht eine Frau mit ihrem Enkelkind am Zaun und beide bedienen sich sichtlich vergnügt an den Trauben; das Kind hat schon einiges an Früchten verdrückt, wenn man sein T-shirt betrachtet. Ich steige aus und gehe zu ihr.
„Na, das ist ja mal schön, dass jemand mein Plakat ernst nimmt und zugreift."
„Ja", sagt sie, „wissen Sie, vor ein paar Tagen bin ich mit meinem Mann hier entlang gelaufen. Da wollte mein Enkel auch schon von den Trauben naschen, aber der Opa hat das verboten. Was meinen Sie, wie wir uns gefreut haben, als wir das Plakat heute sehen!"
Das finde ich toll! Mag sein, dass ich manch einem, dem die Früchte aus Nachbar´s Garten sowieso am besten schmecken, den Spaß verdorben habe. Aber jenen, die immer ganz streng mit sich selbst sind und jeder Verlockung widerstehen, denen macht so eine Erlaubnis sichtliche Freude. Und es werden mehr und mehr.

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