SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Ich will das Morgenrot wecken." (Psalm 57,9) So heißt es in einem Psalm der Bibel, dieser literarischen Hausapotheke der Menschheit (Heinrich Heine)! Zärtlich und frech - so äußert hier der Beter seine Lust auf einen neuen Tag. Er gibt der noch schlafenden Sonne förmlich einen Schubs. Er kann es nicht erwarten, dass die Sonne aufgeht .. In den Mythen der alten Völker ist die Morgenröte eine weibliche Göttin: Sie bringt die Sonne zur Welt. Hier richtet sich das Gebet an den Schöpfergott, mit förmlicher Lust auf die Morgensonne, mit neuer Freude am Leben. „Mein Herz ist bereit, o Gott, / mein Herz ist bereit, ich will dir singen und spielen. // Wach auf, meine Seele! / Wacht auf, Harfe und Saitenspiel! / Ich will das Morgenrot wecken." Das Aufwachen der Seele innen und der Sonnenaufgang draußen - sie geben sich wechselseitig Resonanz. Hellwach und aufgeweckt wird ein neuer Tag begrüßt, ja herbeigewünscht. Der ist ja nicht selbstverständlich, der kommt nicht von allein, der ist wie ein umwerfendes großes Geschenk. Unsereiner bekommt solch ein Morgenrot vielleicht nur noch in den Bergen zu sehen oder am See. Zu eng sind die Straßen, zu gestaut die Autokolonnen, zu dicht besetzt U-Bahn und Bus. Aber selbst im Dickicht der Städte ist noch eine Ahnung davon. Jeder Morgen taucht aus der Nacht auf, jeder Sonnenaufgang ist überwundene Finsternis. Gewiss: Manche hatten eine schwere Nacht und kommen nicht aus den Federn. Und wer Nachtschicht hatte, ist dankbar für das morgendliche Einschlafen. Aber im Prinzip gilt doch: Der Aufgang des Tages hat eine besondere Kraft. Förmlich drängend und neugierig will der Beter daran Anteil haben. Er erkennt daran das tägliche Wunder der neuen Schöpfung. „Ich will das Morgenrot wecken. /Ich will dich vor den Völkern preisen, Herr, / dir vor den Nationen lobsingen. / Denn deine Güte reicht, soweit der Himmel ist, / deine Treue, soweit die Wolken ziehen." (Psalm 57,8-9) Betend weiß sich der Mensch in der Obhut Gottes: Himmel und Erde werden zum Lebensraum, in dem wir seiner Güte und Treue begegnen. Das ist dem Betenden Anlass zur Dankbarkeit, ein Loblied auf die Morgenröte, ein kleiner Sonnengesang, eine kräftige Zustimmung zum Leben hier und heute. Deshalb ist das Morgengebet in allen Religionen so zentral. Ob's nur ein Kreuzzeichen ist beim Aufstehen oder ein längeres Innehalten vor dem Tagesprogramm oder ein kleines Stoßgebet am Steuer schon auf der Fahrt zum Dienst, in der S-Bahn oder in der Warteschlange. Das Morgenrot kann auf vielfache Weise geweckt werden.

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