SWR2 Wort zum Tag

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Wie beginnt es unter den Menschen mit ihrem Leben in allen seinen Schattierungen? Wo nimmt das Lachen, wo das Weinen seinen Anfang? Wo die Liebe? Wo der Tod? Die Bibel als ein Buch der Anfänge erzählt davon und der jüdische Schriftsteller Meir Shalev hat die Frage nach den Anfängen in der Bibel zum Leitprinzip eines seiner Bücher gemacht. „Aller Anfang" heißt es. Mich hat es sehr angeregt.
In einem seiner Kapitel geht es um das erste Weinen in der Bibel. Es ist das Weinen einer Mutter um ihr Kind. Die Geschichte findet sich unter den Abrahamserzählungen. Gott hatte Abraham Nachwuchs zugesagt. Ein männlicher Erbe sollte einst an seine Stelle treten und Stammvater einer großen weltumspannenden Familie werden. Doch die Einlösung dieses Versprechens blieb aus. Sara, Abrahams Frau, wurde nicht schwanger. Ungeduldig sann sie darauf, durch eine Leihmutter zu Kindern zu kommen, und drängte Abraham, ihre Dienerin Hagar zu schwängern. Hagar gebar Abraham tatsächlich einen Sohn - Ismael.
Als Sara später doch noch schwanger wird und Isaak zur Welt bringt, kommt es in dieser Patchwork-Familie zu Rivalitäten und Konflikten. Sie enden damit, dass Sara ihre Dienerin Hagar samt deren Sohn aus dem Haus jagt. Abraham erweist sich als williger Vollstrecker, stattet Mutter und Sohn mit etwas Wasser und Brot aus und schickt beide in die Wüste. Nachdem der Wasserschlauch leer getrunken ist, legt Hagar ihren Sohn im Schatten eines Strauchs ab und weint laut.
Es ist dieser merkwürdig verbogene Charakter Abrahams, von einem blinden und zu allem bereiten Gehorsam gezeichnet, der mich hier besonders interessiert. Und es ist das Weinen der ägyptischen Magd Hagar, dieser Ausländerin, das das Herz eines jeden Lesers, ob Jude oder nicht, bewegen muss. Erst mit den Tränen ausgerechnet einer Fremden kommt Ehrlichkeit und Feingefühl in diese Erzählung.
Familiengeschichten sind oftmals ungerecht - und die Geschichten von Völkern, die sich um Erbbesitz und Nachfolge streiten, sind es auch. Die Bibel, die manche Völkergeschichte als Familiengeschichte erzählt, weiß ein Lied davon zu singen. Das Weinen Hagars ist das Weinen einer Verstoßenen. Doch verstoßen ist sie nur unter den Menschen, nicht jedoch von Gott. Hagars Weinen berührt Gottes Herz. Er rettet Hagar und Ismael aus ihrer Todesnot und eröffnet eine Beziehungsgeschichte jenseits seiner Verheißungen an Abraham und Sara.

 

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