SWR2 Wort zum Tag

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Das Faszinierende an der Bibel - oder besser: eine ihrer Faszinationen - ist, dass sie ein Buch der Anfänge ist. Sie beginnt mit der Erschaffung der Welt, des Lebens, der Menschen - und indem sie erzählt, wie alles angefangen hat, führt sie auch alles auf ihre Weise ein: die Liebe und den Tod, die Schuld, die Arbeit und das Weinen, den Kuss und zum Beispiel auch den ersten Traum.
Auf die Frage nach dem ersten Traum in der Bibel fällt mir zunächst Joseph ein mit seinen narzisstischen Träumen oder dessen Vater Jakob mit seiner geträumten Gottesoffenbarung - der Himmelsleiter. Der jüdische Schriftsteller Meir Shalev verweist jedoch noch auf einen früheren Träumer: den Philisterkönig Abimelech von Gerar.
In dessen Land war Abraham mit seiner Frau Sara zu Gast. Sara war offenbar bildhübsch. Jedenfalls hatte Abraham Angst, der fremde König könne ihn aus Eifersucht töten lassen, und gibt deshalb Sara als seine Schwester aus. König Abimelech nimmt sie mit in seine Residenz und träumt noch in derselben Nacht den ersten Traum der Bibel.
Gott erscheint ihm im Schlaf und verurteilt ihn eines todeswürdigen Vergehens, weil er eine verheiratete Frau geraubt hat. Abimelech verteidigt sich auf Treu und Glauben, dies nicht gewusst zu haben, und Gott lässt ihn mit dem Leben davon kommen, wenn er Abraham Sara zurückbringt.
Shalev legt in seinem Buch „Aller Anfang" diese Erzählung auf spannende und überraschende Weise aus. Das Interessante ist die Funktion, die dem Traum hier bei seiner ersten Erwähnung in der Bibel zugedacht wird: Er ist Gottes Offenbarung an einen Fremden, an einen, der - bislang - von Gott nichts weiß. Inmitten all der Geschichten, in denen Abraham und andere Protagonisten mit Gott umgehen wie mit einem Mitmenschen, mit ihm reden, unter einem Baum sitzen und essen - sozusagen ganz vertraut mit Gott auf Du und Du - wendet sich Gott an einen Außenstehenden, den Philisterkönig Abimelech, im Traum.
Der Traum ist eine Gegenwelt zu unserem Alltag. Er durchkreuzt dessen Logik, hintergeht vielleicht auch manche bewusst gehegten Absichten und Pläne. So auch hier: Im Traum wird Abrahams Täuschungsmanöver aufgehoben und überführt. Im Traum sieht Abimelech hinter dieses vordergründige Realitätskonstrukt. Er durchschaut es, durchschaut auch Abraham und gewinnt Einblick in die tieferen und wahren Zusammenhänge. Auf diese Weise bewahrt Abimelechs Traum alle Beteiligten dieser Geschichte vor einem verhängnisvollen Irrtum.

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