Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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1949 im Hauptbahnhof Zürich. Am Fahrkartenschalter steht ein alter Mann. Es ist der berühmte Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung. Er will ein Ticket nach Rom. Als der Beamte ihm die Karte ausstellt, fällt der 74jährige in Ohnmacht. Aus der Romfahrt wird nichts.
Der Schwächeanfall hatte keine körperlichen Ursachen. C.G. Jung war gesund. Aber die Vorstellung, jetzt nach Rom zu reisen, hatte ihn übermannt. Rom, die Ewige Stadt. Jung war noch nie dort. Immer hatte er davon geträumt, diese einmalige Metropole mit eigenen Augen zu sehen. Endlich in der einstigen Hauptstadt der Welt zu sein, inmitten von soviel Kunst und Geschichte. C.G. Jung hat später erklärt, er habe nach Rom nicht so reisen können wie nach Paris oder London. Mit Rom - so schrieb er - „ist das eine andere Sache." Von dem „Geist, der hier gewaltet hat, (wird) man auf Schritt und Tritt im Innersten betroffen."
Die Geschichte klingt kurios. Aber, kann man den großen Gelehrten nicht auch verstehen? Vielleicht ahnte er, dass seine Sehnsucht besser unerfüllt bleiben sollte. Denn könnte die reale Stadt wirklich seinen Träumen entsprechen? Würde der Zauber Roms nicht zerstört durch geschlossene Kirchen, streikende Museumsbeamte, missgelaunte Hotelangestellte, überquellende Mülltonnen oder das Verkehrschaos? C.G. Jung hat seine römischen Reisepläne aufgegeben. Für immer. Die Sehnsucht zu bewahren, war ihm wichtiger. Vermittelt sie doch eine Ahnung davon, dass es mehr gibt, als das Reale, das wir im Hier und Jetzt konkret erfahren können. Ein irischer Gebetswunsch formuliert das so: „Ich wünsche dir nicht das Paradies auf Erden, aber dass du oft davon träumst. Ich wünsche dir nicht die Erfüllung deiner Sehnsucht, aber dass du sie nie aufgibst. Denn so, in der Ahnung von Wunderbarem, das sich dir jetzt noch verschließt, bist du ein Mensch, der auf dem Weg bleibt."

https://www.kirche-im-swr.de/?m=11401
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