Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Es ist eines der bekanntesten deutschen Gedichte. In der Schule steht es bis heute auf dem Lehrplan. Viele Erwachsene kennen es. Der Text: »Über allen Gipfeln /Ist Ruh, / In allen Wipfeln / Spürest du / Kaum einen Hauch; / Die Vögelein schweigen im Walde. / Warte nur, balde / Ruhest du auch.« Ein Gelegenheitsgedicht. Johann Wolfgang von Goethe kritzelte es vor genau 221 Jahren, am 6. September 1780 an die Holzwand einer Jagdhütte im Thüringer Wald. Jetzt können Sie sagen, was hat denn das Gedicht am frühen Morgen im Radio zu suchen. Ein Abendgedicht! Stimmt. Aber für mich ist es über die Jahre mehr und mehr zu einem Morgengedicht geworden. Ein Gedicht, um den Tag gut zu beginnen. Warum? Das zentrale Motiv in Goethes Gedicht ist der Tod. Keine Bewegung ist mehr zu spüren, alles ruht, schweigt. Kein Hauch, auch kein Lebenshauch ist zu spüren. Und es ist klar: irgendwann verstumme auch ich. Bin tot. In vielen Religionen, auch im Christentum, sind Tod und Leben eng miteinander verknüpft. Leben heißt auch, sich auf den Tod vorzubereiten. Heißt, nicht nur nach vorne zu denken, sondern auch zu bedenken, dass das Leben endlich ist. Wenn ich deshalb ernst nehme, dass ich einmal sterben werde, dann kann ich mein Leben klarer sehen. Denn nur wenn ich weiß, dass ich sterben kann, kann es mir gelingen, meine Lebenszeit zu schätzen. Ist ja klar: Wenn ich unsterblich bin, ist alles gleichgültig. Ich kann es heute tun oder morgen oder übermorgen. Wenn mir aber wirklich bewusst ist, dass meine Zeit begrenzt ist, dann muss ich mich anders verhalten. Dann muss ich jedem einzelnen Tag Gewicht geben. Das, was ich tue, bewusst tun. Egal ob es Beruf oder Familie, Freizeit oder Ferien sind. In der christlichen Tradition heißt das: Ars moriendi, die Kunst sein Leben im Angesicht des Todes zu gestalten. Und dazu zählt eben auch, dass ich mir immer wieder vor Augen führe, dass jeder Tag der letzte meines Lebens sein kann. Aber auch den kann ich vom Morgen bis zum Abend in meine Hände nehmen und ihn gestalten, in aller Ruhe und Gelassenheit.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=11398
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