SWR2 Wort zum Tag

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Der einstige Bürgerrechtler Joachim Gauck hat bei den diesjährigen Salzburger Festspielen eine bewegende Rede gehalten. „Das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken", so lautet ihr Leitgedanke. Neu hören und sehen lernen, festgefahrenes Denken aufbrechen - darum geht es.
Beeindruckt hat mich, was Gauck zu Europa sagt. Es sind politische Gedanken zu den Werten, aus denen Europa lebt; sie berühren aber auch Grundfragen des christlichen Glaubens, ohne die die europäische Idee keine Zukunft hat.  
Haben wir noch einen Blick dafür, was die Gründerväter von einst bewegt hat, als sie sich dafür einsetzten, dass sich die Feinde von einst versöhnten, dass nach mörderischen Kriegen eine Gemeinschaft des Friedens entstand? Dass Grenzen fielen und Mauern überwunden wurden? Gewiss: Wir sorgen uns heute um Europa. Die Krise des Euro beherrscht seit Monaten die Medien, ebenso die dramatische Überschuldung einiger Mitgliedsstaaten. Und schon vor Jahren haben sich die Europäer wie in einer Festung gegenüber den Menschen  abgeschottet, die aus den Elendsregionen dieser Welt zu uns zu fliehen versuchen. Wir werden überfremdet, behaupten viele.
Ich will solche Sorgen nicht klein reden. Aber Angst kann auch Augen und Ohren verschließen, den Verstand blockieren, das Vertrauen vergiften. Und da steht dann ein Mensch hin und bezeichnet es als ein Wunder, dass er heute als freier Mann im Herzen eines freien Europa öffentlich auftreten kann - einer, der „von draußen" kam, aus einem mit Stacheldraht und Minen abgeriegelten Machtbereich, dessen Herrschern  die Werte Europas nichts galten. Einer, der noch weiß, wie es Unterdrückten geht, und der ihre Sehnsucht nach Selbstbestimmung und Freiheit noch kennt. Und der auch sieht, wie sehr die langen Schatten der Diktatur noch heute nachwirken. Ich bin froh, dass Persönlichkeiten wie Joachim Gauck uns daran erinnern, was Europa wirklich verbindet: die Freiheit zuallererst, der Wille zum Frieden; dass die Würde  jedes einzelnen Menschen geachtet wird und dass das Recht für alle gilt. Es muss doch seinen Grund haben, dass mutige Menschen im Osten so lange dafür kämpften, bis die Mauern fielen. Und dass viele Menschen aus den Elendsregionen das Leben hier für so wertvoll halten, dass sie alles dafür wagen. Gauck hat Recht: Nicht Strategien der Angst werden Europa retten, sondern Menschen, die mit offenen Augen und Ohren und wachem Verstand handeln. Nicht Finanzen und Wohlstand allein halten Europa am Leben, sondern dass wir gemeinsam Verantwortung für seine Werte der Menschlichkeit übernehmen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=11393
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