SWR2 Wort zum Tag

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„Die Ohren aufwecken, die Augen, das menschliche Denken" - unter dieses Wort hat der frühere Bürgerrechtler Joachim Gauck seine Rede zur Eröffnung der diesjährigen Salzburger Festspiele gestellt. Ein Lobpreis auf die Freiheit ist diese Rede. An einem Fest der Künste, die nur „im Lebensatem der Freiheit" wirklich gedeihen können. Und es verwundert nicht, dass Gauck dabei an die Zeit erinnert, in der mutige Menschen in der DDR und im ganzen damaligen Sowjetimperium gegen die Unfreiheit aufgestanden sind. 
Ihnen ist es zu verdanken dass heute in Europa Freiheit herrscht, von der niemand ausgeschlossen ist. Sie haben sich den Blick nicht blenden, das Denken nicht verbieten und die Ohren nicht täuschen lassen von der Ideologie derer, für die Freiheit verdächtig und unerwünscht war. Gauck spricht von den Künstlern, die sich nicht an die Macht verkauft haben. Sie haben den Suchenden Augen und Ohren und den Geist geöffnet. Und Christen in den unterdrückten Völkern haben Gegenkulturen aufgerichtet; sie haben Haltungen und Werte bewahrt, die den Unterdrückern nichts galten. In den „Meeren der Anpassung und den Wüsten der politischen Ohnmacht", so Gauck, haben sie dem Wortgeklingel das Wort „Wahrheit" entgegen gestellt. Selbstverständlich war das nicht; vielmehr ist es „normal" gewesen, sich anzupassen, und viele sind dazu übergegangen, die Unterdrücker zu einem verinnerlichten politischen Über-Ich zu machen. Nicht die Siegerstraße hat damals die Mutigen erwartet, sondern das Gefängnis, erinnert Gauck. Und sie haben nicht gewusst, ob zu ihren Lebzeiten die Unterdrückung enden und die Wahrheit siegen wird. Das ist heute Geschichte, Gott sei Dank. Aber ist es wirklich Vergangenheit? Ist nicht stets die Gefahr präsent, sich anzupassen und dies als „normal" zu betrachten, während Widerständigkeit als „unvernünftig" gilt? Wie oft beugen wir uns den Stärkeren, der Hierarchie oder auch der Mehrheit und verinnerlichen ihre Meinung, ihren Willen? Verbiegen uns? Halten für Wahrheit, was eigentlich nur Anmaßung ist? Weil es vielleicht der Karriere nützt, weil es opportun ist oder einfach bequemer. Ich sehe das in Familien, in Betrieben, in der Kirche, in vielen gesellschaftlichen Gruppen. Ich will mich da nicht ausschließen. Wie viele Kompromisse schließe ich, manchmal gegen die Stimme des eigenen Gewissens, und wie glaubwürdig bin ich dabei noch? „Die Ohren aufwecken, die Augen, das menschliche Denken" - mit allen Sinnen und mit dem Herzen offen sein für das, was wirklich Geltung hat. Die Freiheit des eigenen Denkens wagen. Darin liegt unsere Würde. Wir müssen Menschen dankbar sein, die uns daran erinnern.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=11391
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