SWR2 Wort zum Tag

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Manche Worte und Gedanken verdienen es, dass man länger bei ihnen verweilt. Für mich gehört dazu die Rede, die Joachim Gauck bei den diesjährigen Salzburger Festspielen gehalten hat. Gauck war Bürgerrechtler in der DDR und hat im vergangenen Jahr für das Amt des Bundespräsidenten kandidiert. „Das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken" - so hieß das Motto der Salzburger Festspiele, und dieses Motto hat er zum Thema seiner Ausführungen gewählt. Gauck hat in Salzburg eine sehr politische Rede gehalten, zugleich betrifft mich vieles darin ganz persönlich und lässt mich über mein eigenes Leben nachdenken.
„Das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken" - muss es darum nicht immer neu gehen: mit allen Sinnen, mit Geist und Herz offen sein für das, was ist und was wirklich Bedeutung hat? Weit werden für ein Leben, das unendlich viel mehr ist als die ständige Wiederkehr der alltäglichen Pflichten und Sorgen? Unendlich viel weiter als die politischen Wolken, die uns manchmal beunruhigen? Unendlich viel weiter auch als das eigene Ich, das uns manchmal so kümmerlich vorkommt und an dem wir oft verzagen möchten?
Gaucks Worte sind ein Plädoyer gegen die Tristesse des Alltags, die alles umgeben und durchdringen kann. Dabei müssen es gar nicht unbedingt die großen Dinge sein, die unser Denken und Herz weit machen, wenn wir nur richtig hinsehen und hinhören. Habe ich nicht so etwas gespürt - jetzt im Urlaub -, wenn ich vor der überwältigenden Farbenpracht der Blumen in meinem Garten stand? Kann es nicht ein Wort, eine Geste der Zuwendung, der Liebe eines vertrauten Menschen sein, die ich wieder wahrnehme? Gauck erinnert an die Erfahrung von Glück, die Musik in mir wachrufen kann, oder an ein Bild, das mich einfach nur „Ja" sagen lässt.
Ja, die Kunst ist ein Weg, der mich über mich hinausführt in eine große Weite. Auch der Glaube ist ein solcher Weg. In der Kunst und in der Religion können wir dem Absoluten begegnen. Erfahrungen, die das Leben, das Fühlen und Denken weit machen, haben eines gemeinsam: Wir können nicht darüber verfügen. Sie ereignen sich aus Freiheit - gratis sozusagen.  Ein Theologe würde vielleicht das Wort Gnade wählen. Und sie können in uns einen Raum der Freiheit eröffnen. In solchen Momenten, sagt Joachim Gauck, ist unsere Verzagtheit dahin, die uns den Blick verengt. Wir sind nicht verurteilt zur Nichtigkeit. Wir spüren das vielleicht lange vergessene Gefühl, lebendig zu sein. Wir ahnen eine Kraft, die uns zu uns selber führt, die uns zu dem macht, was wir sein können: sensible, schöpferische, mit guten Gaben ausgestattete Wesen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=11390
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