SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

Im Keller, zweite Schublade von oben, linke Seite. Da habe ich sie einsortiert, die Frau, die mir gestern an der Türe eine ziemlich abstruse Geschichte erzählte. Eigentlich wollte sie nur ein paar Euro haben. Es ist schon eine Versuchung: Menschen, die einem begegnen, zu sortieren. Nach „Sympathisch und unsympathisch", nach „Schwätzer und Ernsthaft" und so weiter. Das Einsortieren läuft manchmal fast automatisch, beim Bewerbungsgespräch genauso wie beim smalltalk auf der Party. Einmal aber in eine Schublade gesteckt, fällt es nicht so leicht, jemanden da wieder rauszuholen. Das braucht schon eine Menge Ehrlichkeit mit sich selbst. Ein alter und ziemlich strenger Lehrer während meiner Grundschulzeit schrieb mal in meine Poesiealbum: „Richte nie den Wert des Menschen schnell, nach einer kurzen Stunde! Oben sind bewegte Wellen, doch die Perle liegt im Grunde." Heute weiß ich, wie wahr das ist.  Wie schnell habe ich jemanden abgehakt, bevor ich ihn wirklich kennen gelernt und das Schöne an ihm entdeckt habe. Und sicher habe ich mir und meinem Gegenüber schon so manche Chance vertan, weil ich mir nicht die Zeit genommen habe, ihn besser kennen zu lernen. Von Gott sagt die Bibel, dass er es anders macht, dass er genauer ist, dass er sorgfältiger ist. Da heißt es: „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der HERR aber sieht das Herz an." Gott sei Dank, dass er nicht so schnell über mich urteilt, wie ich über die Frau an der Haustüre - die 5 Euro haben wollte. Wahrscheinlich läge ich bei ihm im Keller zweite Schublade von oben, linke Seite und käme nicht mehr da raus.
Und wer will da schon hin!

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