SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Ich schreibe dir heute einen langen Brief, für einen kurzen hatte ich keine Zeit", schreibt Goethe einmal an seine Schwester. Habe ich richtig gehört? Ein kurzer Brief, der mehr Zeit erfordert als ein langer? Vielleicht ist das so gemeint: der lange Brief ist unbedachter, darum aus­ladender und wortreicher. Ein kurzer Brief hingegen erfordert Präzision und Konzentration. Dazu aber fehlte Goethe gerade die Zeit. Liegt darin der Grund, warum heute an vielen Stellen so wortreich nichts gesagt wird? Eine Journalistin fragt einen Verantwortungsträger nach dem konkreten Termin für eine anstehende Entscheidung. Der antwortet wort­reich, aber nebulös. Eine Konferenz über ein heikles Thema dauert Stun­den. Unterm Strich aber ist das Ergebnis dürftig. Je mehr Worte, so scheint es, desto weniger Inhalt. „Wo viele Worte sind", so der weise König Salomo, „da geht's ohne Sünde nicht ab; wer aber seine Lippen im Zaum hält, ist klug." Tatsächlich - was lässt sich nicht alles mit wortreichen Behauptungen anstellen? Prozesse werden geführt, weil Menschen angeblich behauptet haben, was andere bestreiten. Beziehungen werden verletzt, Existenzen vernichtet, weil Worte jemanden in seiner oder ihrer Ehre tief getroffen haben. „Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott. Und Gott war das Wort", so der berühmte Prolog des Johannesevangeliums. Sprache schafft Wirklichkeit. Und je klarer die Sprache ist, desto mehr Licht fällt auch ins Dickicht der Realität. Das göttliche Wort scheidet in einem schöpferischen Akt Licht von der Finsternis und erhellt die Welt in einem Spektrum buntester Farben. Ver­ständigung gelingt umso besser, je mehr wir uns Zeit nehmen, auf diese feinen Nuancen zu achten. Ich übe mich also in der Wahrnehmung von Nuancen. Achte auf meine Wortwahl. Und erinnere mich: Am Anfang war das Wort, das die Welt erleuchtet hat. Jedes Wort sollte etwas von diesem ersten Glanz bewahren. Nicht die Wahrheit eintrüben, sondern klar machen. Nicht die Gegenwart vernebeln, sondern aufklären. Nicht Menschen unter Wortlawinen begra­ben, sondern sagen, was in diesem Moment hilft, die nächsten Schritte zu tun. Das Wort, meine Worte, in Obhut nehmen, darum geht es. Ein schöner Vorsatz. Er verhilft, wenn er gelingt, zur Konzentration, spart Zeit und macht die Welt ein wenig klarer und übersichtlicher.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=11285
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