SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Immer, wenn ich an ihrem Bett stand, fiel mein Blick auf das Foto auf dem Nachttisch:
Eine junge Frau mit strahlenden Augen in einer blumengeschmückten Küche. „Das war meine Mutter, damals, als wir noch den Hof hatten“, erzählt mir die Tochter. Größer kann der Kontrast nicht sein: Vor mir eine Frau, von Krankheit gezeichnet, die weder sprechen noch sich bewegen kann, die wie ein kleines Kind mit allem versorgt werden muß. Ihr Anblick ist manchmal kaum zu ertragen. Aber ich sagte es mir und den Verwandten: Diese Frau ist viel mehr, als wir jetzt von ihr sehen. Nicht nur wegen des Bildes auf dem Nachttisch, nein. Diese Frau ist Gottes Bild, sein geliebtes Geschöpf. Und in diese sterbliche Hülle hat Gott ein Saatkorn hineingelegt, den Keim zu einem unvergänglichen, ewigen Leben.

Bei einem anderen Besuch stimme ich ein Lied an, und ich staune, als die Frau ihre Lippen bewegt, fast unhörbar die Worte formt: Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren!
Ein altes Lied, ein Lob Gottes, gesungen, gehaucht von einem Menschen, der gar nicht mehr ansprechbar ist? Der Verstand schüttelt den Kopf. Und doch erkenne ich in diesem schwachen Lob die kleine Pflanze des Glaubens, die sich Gehört verschafft. „Siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr es denn nicht?“

Nein, meistens erkennen wir es wirklich nicht. Krankheit, unerfüllte Hoffnungen, zerbrochene Beziehungen, auch das Altwerden und Sterbenmüssen: Alles das kann uns den Blick verstellen. Und doch: Gott will ein Neues schaffen. Er will Veränderung zum Guten, über den Tod hinaus. Er möchte in uns wachsen, und er kann es in dem Maße, in dem wir es zulassen. Indem wir die Pflanze des Glaubens versorgen. Das Gebet und die Bibel liefern die nötigen Nährstoffe, und natürlich der Gottesdienst, das gemeinsame Singen.
Das heißt sicher nicht, daß alles wieder gut und gesund wird. Aber das Leben wird sich merklich verändern, es wird getragen sein von Zuversicht und Kraft. Unaufhaltsam wächst es heran, keimt und sprosst, durchbricht sogar den sogenannten „Boden der Tatsachen“.

So wie bei jener alten Frau. So, wie bei allen, die Christus in sich wachsen lassen.
Für sie steht der Frühling vor der Tür. Ein Frühlingserwachen, das die kühnsten Träume übertrifft.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=1119
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