SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Wenn es nur einmal so ganz stille wäre..."
wünscht sich Rainer Maria Rilke in einem Gedicht.
Diese Sehnsucht,  Oasen der Stille zu erleben, einfach sein zu können - diesen Wunsch verspüre ich besonders in der Sommerzeit. Wo finde ich Oasen, um Lärm, Hektik und Stress hinter mir zu lassen? Wo sind diese Nischen der Stille, die mich innehalten lehren und mich ganz bei mir sein lassen?
Vielleicht finde ich diese Orte der Stille in den Bergen, am Meer, auf einsamen Wanderwegen, vielleicht auch in einer Kirche oder in einem Kloster.
Vor Jahren stand ich mit meinem Mann an einem solchen Ort. Es war eine alte Abteiruine in der Toskana. Sie hielt uns in ihrer Harmonie aus Stein, dem Blick zum Himmel und ihrer Erhabenheit gefangen. Vor zwei Jahren stand ich wieder in dieser Abtei in San Galgano. Dieses Mal allein. In ihrem Inneren wuchs Gras, wie damals. Auch der Himmel über mir war so blau wie damals. Ich konnte mich der Faszination des gewaltigen Innenraumes nicht entziehen, erinnerte mich an das Glück dieses Urlaubs, an vergangene Zweisamkeit.
Diese Abtei ist ein Gegenort zu allem Lauten, ein Ort für die Seele, ein Ort, der still werden lässt und der Geborgenheit vermittelt. Ihre in Stein gemeißelte Geschichte gibt Zeugnis alten Glaubens. Jahrhunderte haben Menschen hier gelebt, gebetet und gearbeitet. Vielleicht haben Menschen hier auch um ihren Glauben gerungen, aus ihm Kraft erhalten. Freude, Trauer und Leid haben diese Mauern gesehen. Menschen haben hier einen Ort gefunden für ihre Hoffnungen, für ihre Wünsche und ihre Tränen.
Ein solcher Ort wie dieser gibt der Seele Raum. Betrete ich ihn, dann weiß ich, ich stehe an geschichtsträchtigem Ort. Er erzählt, woher wir kommen, dass wir verwoben sind in ihre Geschichte. Ich fühle mich verbunden mit allen, die vor mir  gelebt haben. Hier wird Gestalt, was Dorothee Sölle „Gott ist Gedächtnis" nennt. Orte wie die Abtei von San Galgano in ihrer schlichten Schönheit  vergegenwärtigen etwas von dem, was unzerstörbar und unverlierbar ist und bleibt: Gedächtnis.
Solche Räume bringen zum Nachdenken, weil sie mich berühren. Sie richten auf und ermutigen zum Leben, tun gut. Ähnliche Oasen der Stille gibt es auch woanders. Einen solchen Ort immer wieder zu suchen, ihn auch in der näheren Umgebung zu entdecken, ist wichtig, lässt er doch Atemholen, stille werden und schenkt Frieden.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=11090
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