SWR2 Wort zum Tag

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Der Franzose Abbé Pierre war weit über sein Land hinaus bekannt als Helfer der Obdachlosen und Anwalt derer, die am Rand der Gesellschaft leben. Er hatte sich sein Leben lang für ein Prinzip eingesetzt, das in Kürze vom französischen Parlament zum Gesetz erhoben werden soll: nämlich das einklagbare Recht auf eine Wohnung. Ende Januar ist Abbé Pierre mit 94 Jahren gestorben und wurde in der Kathedrale Notre Dame in Paris verabschiedet. Eine große Gemeinde hatte sich zum Trauergottesdienst versammelt, unter ihnen waren der Staatspräsident und der Erzbischof von Paris, vor allem aber viele seiner Weggefährtinnen und Weggefährten, die sogenannten ‚Lumpensammler’ und die anonymen Wohltäter aus seinem Hilfswerk ‚Emmaus’. Mehr als zehntausend Mitglieder hat es heute in 37 Ländern.
Abbé Pierre wurde 1912 geboren und stammte aus einer wohlhabenden Seidenfabrikantenfamilie in Lyon. Sein Erbteil verteilte er schon früh an die Bedürftigen in seiner Heimatstadt. Er trat in den Kapuzinerorden ein und wurde Priester. Während des zweiten Weltkriegs war er Mitglied des Widerstandes. Er half politisch Verfolgten bei der Flucht in die Schweiz. Nach dem Krieg war er zeitweise Mitglied der Nationalversammlung. Am 1. Februar 1954 wurde er gleichsam über Nacht in ganz Frankreich bekannt, als er in einem Radioaufruf seine Landsleute zur Nothilfe für die Obdachlosen mobilisierte mit den Worten: „Meine Freunde, zu Hilfe. Eine Frau ist heute Nacht um drei Uhr auf dem Bürgersteig erfroren. Jede Nacht gibt es mehr als 2000 Obdachlose, in der Kälte, ohne Dach, ohne Brot, einige fast nackt.“ (Aus NZZ, 23.1.2007, Nr. 19, S. 7)
Abbé Pierre brachte damals ins Bewusstsein der Öffentlichkeit, dass die großen wirtschaftlichen Erfolge der Nachkriegszeit auch ihre Kehrseite hatten, ihre Opfer, Menschen, die nicht mithalten konnten, die aus vielerlei Gründen auf der Straße sind und nur mit dem Allernotwendigsten überleben. Sein Aufruf wurde gehört und von vielen verstanden: Es gehört zur Qualität einer Gesellschaft und gibt Auskunft über ihr menschlich-ethisches Niveau, dass sie die Obdachlosen nicht ausschließt, sondern als zu sich gehörig betrachtet. Und den Betroffenen auch das Bewusstsein zu geben versucht, dass sie dazugehören. Dazu trug Abbé Pierre mit seinem langen Leben in erheblichem Maße bei. Und dazu tragen heute immer mehr Einrichtungen bei wie Tafeln, Speisekammern, Suppenküchen, Vesperkirche und Essenstreffs. Allein in Deutschland gibt es davon heute über 600. Seit 2003 hat sich ihre Zahl verdoppelt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=1107
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