SWR2 Wort zum Tag

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„Weiter sehen als wir sind", dieses Wort des holländischen Theologen und Dichters Huub Oosterhuis[1] könnte ein wegweisendes Wort für die gegenwärtige Situation der Kirche sein. Für die katholische Kirche, aber auch für alle Kirchen, die sich unterwegs wissen auf Jesus Christus hin. 
„Weiter sehen als wir sind." Dieses Wort hat verschiedene Tönungen. Manche fordern voller Ungeduld, doch endlich theologische Denkblockaden zu überwinden, sich aus erstarrten Strukturen zu befreien und mutig nach vorne aufzubrechen. Viele sind da zuversichtlich, andere beginnen zu resignieren oder haben sich bereits äußerlich oder innerlich zurückgezogen. Für andere wiederum scheint die Zukunft darin zu liegen, zu einer scheinbar glaubenstreuen Vergangenheit zurück zu kehren. Diejenigen, die den Blick über das Heute hinaus auf das Morgen richten, vergessen keineswegs Geschichte und Tradition. Die Erinnerungen an die Zukunftsvisionen des Zweiten Vatikanischen Konzils sind noch sehr lebendig. Weithin wurden sie noch  nicht eingelöst und teilweise sogar verdrängt: Es hat sich zur Ökumene bekannt; es hat den nichtchristlichen Religionen erstmals in der Kirchengeschichte eine hohe Wertschätzung erweisen; es hat das Bild einer Kirche mit kollegialen Leitungsstrukturen gezeichnet und allen Christen ein hohes Maß an Mitverantwortung und Mitgestaltung zugewiesen. Und es hat den „Jüngern Christi", wie es heißt, eindeutig ihren Platz an der Seite der Armen und Entrechteten zugewiesen. Solidarisch sein mit dem, was Menschen heute freut, worauf sie hoffen, was sie ängstigt - daran soll die Kirche zu erkennen sein. Was ist daraus geworden? Viele erleben die heutige Situation der Kirche als lähmend und leiden daran. Viele haben Angst davor, das Gewohnte und scheinbar Sichere in Frage zu stellen. Aber ich sehe auch, dass viele Christen an ihrem Platz und in ihren Gemeinden unbeirrt den Aufbruch wagen, den Dialog suchen, das noch Neue und Unbekannte zu denken und danach zu handeln wagen. Das macht mich zuversichtlich. Die Kirche ist immer vorläufig. Sie lebt aus der überschüssigen, nie ausgeschöpften  Fülle des Evangeliums. Und sie lebt auf die unfassbare Fülle Gottes hin - Reich Gottes genannt. Und zwischen diesem unerschöpflichen Ursprung und dieser unfassbaren Zukunft suchen Christen heute und morgen ihren Weg. Zum Schluss ein tröstliches Wort von Pierre Teilhard de Chardin, dem tief gläubigen Ruhestörer: „Ich glaube, dass die Kirche noch ein Kind ist. Christus, von dem sie lebt, ist unermesslich viel größer als sie sich vorstellt; und deshalb werden in Tausenden von Jahren, wenn das wahre Antlitz Christi sich ein wenig mehr enthüllt haben wird, die Christen dann immer noch ohne Zögern ihren Glauben bekennen."[2]


 [1]Huub Oosterhuis, Weiter sehen als wir sind. Meditationstexte - Gebete - Lieder, Freiburg-Basel-Wien 1973. 

[2] Nach: WW XIII 137.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10888
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