SWR2 Wort zum Tag

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Vor wenigen Wochen war ich in Polen, in dem Städtchen Landsberg in Schlesien, das heute den Namen Gorzów Sląski trägt. Eine kleine Gruppe aus der Diözese Rottenburg-Stuttgart war gemeinsam mit Bischof Gebhard Fürst dorthin gereist, um eine Glocke zurückzubringen. 1941 war sie von den Nationalsozialisten abgehängt worden und  sollte - wie Hunderttausende andere Glocken auch - als Raubgut eingeschmolzen und für die Rüstungsproduktion genutzt werden. Aber sie hat überlebt. Seit 1953 läutete sie vom Turm des Rottenburger Doms dreimal täglich zum Gebet. Zufällig wurde vor kurzem ihre Herkunft und ihre Geschichte entdeckt. Bischof Fürst hat entschieden, dass die Glocke den Menschen wieder zurückgegeben werden soll, denen sie einst gehört hatte. 
In Gorzów Sląski wurde die Glocke - und wir mit ihr - mit einem großen Fest empfangen. Die ganze Gemeinde war auf den Beinen - Junge und Alte, Polen ebenso wie Angehörige der deutschsprachigen Minderheit. In den vielen Ansprachen wurde deutlich, dass es den Menschen dort um mehr ging als um eine noch so schöne Glocke. „Die Rückkehr dieser Glocke ist für uns ein Zeichen, dass es nach so vielen Jahren des Leids und der Feindschaft wieder möglich geworden ist, versöhnt und als Freunde miteinander zu leben", sagte eine junge Frau. Und weiter: „Ihr Klang wird in uns die Vision eines friedlichen Europa wach halten und uns immer an unsere Verantwortung dafür erinnern." Wer hätte das noch vor einem Menschenalter für möglich gehalten? Ich fühle mich an ein Wort des holländischen Theologen und Dichters Huub Oosterhuis erinnert: „Weiter sehen als wir sind."[1] Schon vor Jahrzehnten haben weitsichtige Persönlichkeiten an eine solche Friedensvision geglaubt - kurz nach einem mörderischen Krieg, dessen Wunden bis heute noch nicht vollständig verheilt sind. Ich denke an Willy Brandt und die Politiker der Ostverträge, die in den 1970er Jahren von manchen als Vaterlandsverräter beschimpft worden sind. Ich denke auch an Menschen wie die Franzosen Robert Schuman und Charles de Gaulle oder den deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer, die schon Jahre zuvor eine Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland, den alten „Erbfeinden", begründet hatten. Sie haben damals wirklich weiter gesehen - weiter als viele Zeitgenossen es für möglich hielten. Warum erzähle ich das? Ich sehe heute mit Sorge, wie diese wunderbare Vision eines im Frieden vereinten Europa zerrieben wird zwischen den Mühlen der Finanzpolitik und in engstirniger Kleinstaaterei. Und wie wir den Muslimen und Angehörigen anderer Religionen misstrauen, mit denen wir Europa heute doch auch teilen. Europa ist weithin vom Christentum geprägt - gewiss. Aber davon können Christen nur glaubwürdig reden, wenn sie „weiter sehen als wir sind"; wenn sie an der Vision der Versöhnung und des Friedens in einer gemeinsamen Heimat unbeirrt festhalten. 


[1]Huub Oosterhuis, Weiter sehen als wir sind. Meditationstexte - Gebete - Lieder, Freiburg-Basel-Wien 1973.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10887
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