SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Weiter sehen als wir sind." Dieses Wort stammt von dem holländischen Theologen und Dichter Huub Oosterhuis.[1] „Weiter sehen als wir sind" - wer wollte das nicht gerne? Über den heutigen Tag hinausblicken, der Zukunft ihre Geheimnisse entlocken? Wie geht es morgen und übermorgen weiter: mit meinem Leben, mit unserer Gesellschaft, mit der Kirche. Wir tun uns oft schwer mit dem Offenen, Undurchschaubaren, das vor uns liegt - voller Möglichkeiten und Chancen, gewiss, aber auch durchsetzt mit vielem, was uns ängstigt. Der Blick in die Zukunft ist uns verwehrt, wir können nicht darüber verfügen, was das Leben für uns bereit hält. Da helfen alle Prognosen nichts.
„Weiter sehen als wir sind": Es geht dabei nicht um Prognosen, mit denen wir das Jetzt in die Zukunft hochrechnen. Es geht um Visionen, in denen gelingendes Leben in das Jetzt hereinscheint. Das bedeutet, dass wir nicht im Heute verharren, sondern dass wir der Hoffnung etwas zutrauen, dass wir die Sehnsucht nach Glück, nach einem Mehr an Frieden, an befreitem Leben nicht als Illusion abtun. 
Visionen setzen oft ungeahnte Energien frei. Ohne Menschen, die den Mut für Neues haben, die weiter sehen als wir sind - ohne sie wäre in der Geschichte nie etwas aufgebrochen, auch in der Kirche nicht. Ein Franz von Assisi musste kommen, um einer von Macht und Reichtum korrumpierten Kirche zu zeigen, was das heißt: in der Nachfolge Jesu leben. Es bedurfte eines Martin Luther, der dem biblischen Gedanken der Freiheit wieder zu seinem Recht verhalf. Helder Camara, Oswald Romero, Leonardo Boff, die Vertreter der Befreiungstheologie - sie haben uns wieder den Blick dafür geöffnet, dass der Platz der Kirche an der Seite der Armen ist.  Visionäre werden oft als bedrohlich erlebt, auch in der Kirche. Sie gelten dann als Ruhestörer, als Ketzer, als Modernisten. Sie können sehr einsam sein. 
Pierre Teilhard de Chardin, ein großer Visionär der Kirche im 20. Jahrhundert, hat als junger Mann geschrieben: „Es gibt eine Tendenz, das, was etabliert ist, als heilig und tabu gelten zu lassen - es als das Wahre und Gute gelten zu lassen. Damit läuft der ‚Neuerer' Gefahr, als Gotteslästerer zu erscheinen." Die Lage solcher Menschen, die zu früh geboren seien, sei  „voller Gefahren, Traurigkeit und Schönheit", sagt Teilhard de Chardin. Und doch sei ihre Rolle fruchtbar und notwendig. „Durch ihre Fragen, ihre neuen Notwendigkeiten verbreiten sie eine heilsame Unruhe."[2] 

Ich hoffe, dass die Visionäre unserer Tage sich nicht entmutigen lassen, auch wenn sie manchmal unbequem sind und einsam leben. 

als wir sind. Meditationstexte - Gebete - Lieder, Freiburg-Basel-Wien 1973.[2]Nach: Journal 212, dt. Tagebücher II 116f (15. August 1917).

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10885
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