SWR1 Begegnungen

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Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Karfreitag.
Karfreitagstraditionen sind verschieden, evangelische und katholische. Und meist getrennt.
Aber in einem Ort kommen sie heute Nachmittag zusammen, öffentlich. Das ist so in Bad Cannstatt bei Stuttgart.

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Diese »via dolorosa«, dieser Leidensweg durch Cannstatt, der beginnt an der Martinskirche, geht an unsrer Kirche vorbei und zieht sich dann durch den Kursaal von Bad Cannstatt. Dort treffen sie auf gar nicht wenige evangelische Christen, die den gleichen Weg nehmen, um an der Lutherkirche die Matthäuspassion von Bach zu erleben.

Ich habe mich mit dem Evangelischen Dekan von Bad Cannstatt zum Gespräch verabredet, Thema Karfreitag. Und er hat mich dazu in die alte, gotische Stadtkirche eingeladen. So stehen wir in der Sakristei, einem hohen gewölbten sakralen Raum. Und allmählich verstehe ich, warum wir uns dort treffen.

Die Tatsache, dass sich eine alte italienische Tradition, nämlich eine Karfreitagsprozession durchzuführen, hier in Cannstatt angesiedelt hat, wirkt sich bei uns so aus – ökumenisch –, dass in unserer Kirche das Waffenarsenal für die Soldaten von Pilatus gelagert wird.

Die Sakristei ist ein Ort der Ruhe und Sammlung für Prediger, ein friedlicher Ort. In Cannstatt aber an Karfreitag ändert sie ihr Wesen, wird katholische Waffenkammer. Sie dient dem Passionszug der Italiener. Speziell den Römern!

Für zwei Dutzend Bewaffnete. Und da wird ein Richtplatz vor unserer Kirche auf dem Marktplatz aufgeschlagen.

Ein Schauspiel, die Stadt wird zur großen Bühne. Das Besondere in Bad Cannstatt ist aber, dass da nicht zwei Sprachen sind, sondern dass sich die Angehörigen zweier Konfessionen an Karfreitag in der breiten Öffentlichkeit begegnen.
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Diese »via dolorosa«, dieser Leidensweg durch Cannstatt, der beginnt an der Martinskirche, geht an unsrer Kirche vorbei und zieht sich dann durch den Kursaal von Bad Cannstatt. Dort treffen sie auf gar nicht wenige evangelische Christen, die den gleichen Weg nehmen, um an der Lutherkirche die Matthäuspassion von Bach oder einem anderen Komponisten zu erleben.

Zwei Kulturen – oder zwei Mentalitäten begegnen sich, römisches Schauspiel und protestantische Innerlichkeit, Kostüme und musikalische Kontemplation, Katholisch und Evangelisch. Dekan Dinkelaker sagt, die Unterschiede lassen sich auch öffentlich beobachten und ablesen.

Es ist so, dass der, der in die Lutherkirche geht, möglicherweise vorher die Passionsgeschichte gelesen hat und ein klares Ziel hat, während der, der an der Prozession teilnimmt, entweder Zuschauer ist oder aber als ergriffener Mitsänger – die singen da, und er hat vor allem seine ganze Familie hinter sich. Die kommen immer im Pulk.

Ob katholisches Passionsspiel oder evangelische Matthäuspassion. Man kann dabei Teil von etwas großem Ganzen werden.

Es ist berührend, mit welchem Ernst die Schauspieler sich hier in den Dienst der Passionsgeschichte, der Leidensgeschichte stellen, und auch die Verwandten, die zu mehreren Tausend hier herkommen, empfinden sich als Italiener und als Christen, die diese Leidensgeschichte miterleben, vielleicht ist das auch ein Grund, dass man anschließend dann befreit auch den Frühlingstag genießen kann.

Verschiedene Kulturen. Es gibt unterschiedliche Zugangsweisen zu den Grundfragen des Lebens, nach dem Sinn von Leiden, oder: Warum ein Unschuldiger wie Jesus so viel Gewalt leiden musste. Karfreitag. Wer Jesu Passionsgeschichte an sich heranlässt, spürt Aggressionen in sich, Wut und Zorn. Wie geht’s da einem, der dies ganze Drama auswendig kennt, einem Pfarrer und Dekan?

Also ärgerlich bin ich eigentlich jeden Tag, wenn ich die Zeitung aufschlage. Und wenn ich die Passionsgeschichte höre, bin ich da ein Stück weit einbezogen. Ich hab da nicht gleich eine Antwort drauf, sondern ich merke, hier wird mit Menschen, die leiden – es ist ja nicht nur Christus, ein Stück Wahrheit in unserer Welt deutlich gemacht. Und zwar so, dass diese Form von Gewalt nicht in Ordnung ist.

Mancher Hörer hat ja mit Karfreitag gefühlsmäßig auch seine Schwierigkeiten. Früher durfte man nicht laut sein, oder gar lachen, von der Tradition der Trauer und des Todes her verordnet, speziell in Württemberg. Für Jugendliche war das – wie seinerzeit für einen Gustav-Adolf Dinkelaker „auch ein bisschen schwierig“, früher. Und jetzt, mit 62?

Das andere ist, dass ich diese Choräle und natürlich die Passionsgeschichte selber einfach auch mit Stationen meines Lebens verbinde. Neben der Lutherkirche ist ein alter ganz, ganz schöner Friedhof, der Uffkirchhof. Dort ist es so, dass ich als Pfarrer junge Menschen und neulich auch meinen Laienvorsitzenden beerdigen musste. Da sind Menschen wie Otto Riethmüller beerdigt. Der hat das Lied »Sonne der Gerechtigkeit« gedichtet. Das ist für mich schon ein Ausdruck unsres Glaubens, wie ich ihn auch gerne mitsinge.

Und ich verstehe: mitgenommen, hineingenommen in etwas Großes und ein bisschen Geheimnisvolles. In die große Musik der Heilsgeschichte. Und die ist eben nicht immer nur harmonisch! Die kennt die Spannung die Schmerzen und die Misstöne.

So geht’s mir bei den Bach-Chorälen auch. Das Erlebnis, dass man mit dem Tod eines eng verbundenen Menschen zurechtkommen muss, und dass es eben nicht nur bei der Situation der Sprachlosigkeit bleibt, sondern indem man mit dieser Musik, mit diesen Chorälen – auch mit den gehörten Texten ein Stück weit sich angenommen fühlt; das Bedrückende der Situation erleben kann, aber durch die Erfahrung, dass das Kreuz ein Zeichen des Lebens durch Christus geworden ist, einen Weg, eine Tür zum Weiterleben finden kann.https://www.kirche-im-swr.de/?m=1076
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