Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Ach ja, die Liebe! Warum ist die manchmal nur so kompliziert. Man will sich nah sein und läuft doch voreinander weg.
Aber das ist ganz normal, habe ich von einem Pferdeflüsterer gelernt. Pferdeflüsterer, das sind Leute, die wilde Pferde zähmen können. Einfach durch die Art, wie sie ihnen begegnen.
Als ich einen mal bei der Arbeit zugesehen habe, hab ich gedacht: das ist es. Genau so ist das mit der Liebe. Dass zwei Menschen sich begegnen und sich aneinander binden, obwohl sie doch frei und stolz sind wie Wildpferde.
Der Pferdeflüsterer also begegnet dem Pferd zum ersten mal in einer Art Zirkusarena. Das Pferd rast immer im Kreis herum. Es ist völlig durchgedreht. Noch nie hat es einen Sattel auf sich liegen gefühlt und es ist wild entschlossen, das auch niemals zuzulassen.
Der Pferdeflüsterer geht also forsch auf das Pferd zu und jagt es weg.
„Du sollst vor mir abhauen," heißt das. „Es ist ganz in Ordnung, dass du vor mir Angst hast. Lauf weg."
Nach einer Weile bleibt das Pferd stehen. Wird neugierig. Geht ein paar Schritte auf den Mann zu. Jetzt läuft der Mann vor dem Pferd weg.
„Du bist so stark," heißt das. „Ich muss mich vor dir in Acht nehmen. Ich laufe weg, weil ich dich respektiere."
Das aber lockt das Pferd noch mehr heran. Nach einer Weile bleibt Mann stehen. Das Pferd kommt näher. Streckt dem Mann seinen Kopf entgegen. Vorsichtig. Es kommt zur ersten Berührung. Und wie?
Der Mann streichelt den Pferdekopf, schaut aber dabei auf den Boden. „Ich schau dir nicht in die Augen, heißt das. Weil ich dich nicht beherrschen will. Ich bin dir nah, aber ich halte immer auch Abstand. Aus Respekt vor deiner Persönlichkeit." Das Pferd wird ganz ruhig. Lässt sich berühren. Lässt sich sogar einen Sattel auflegen.
Was für zartes Spiel von hin und her, von Näherkommen und auf Abstand gehen. Was für eine Philosophie:
„Alles ist möglich,"  sagt der Pferdeflüsterer, „wenn ich der Versuchung widerstehe, beherrschen zu wollen."
So ist das mir der Liebe. Eine unmögliche Möglichkeit.
Weil man einander die Freiheit lässt, ist die Bindung so groß und innig.

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