Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Leben ist so kostbar. Das ist mir gestern auf der Autobahn wieder mal klar geworden: Stau. Nichts geht mehr. Wir stehen schon 15 Minuten.
Hinter uns öffnet eine Frau die Autotür. Ich sehe, dass sie hinter ihrer Sonnenbrille weint.
Was ist los? Von den Lkw-Fahrern neben uns erfahre ich: „Vor uns 2 Unfälle auf nur 3 Kilometern, mindestens ein Toter, Autos brennen. Das kann dauern."
Ich werde still. Was für ein Wahnsinn, denke ich. Eben war ich selbst noch Teil der Raserei, jetzt ist alles anders. Da vorne ist wieder das Unvorstellbare im Gange: Feuerwehren, Notarztwagen bahnen sich den Weg durch die Gasse. Der Hubschrauber fliegt heran.
„Der Staatsanwalt ist unterwegs, wegen des Toten", ruft der Lkw-Fahrer mir aus seinem Hochsitz zu.
Was machen wir da eigentlich? Überhöhte Geschwindigkeit heißt es oft. Das sei der Hauptgrund für solche Unfälle. Dazu die dauernden Nötigungen, dieses provozierende dichte Auffahren selbst bei höchster Geschwindigkeit. Viele Fahrer sind übermüdet, gönnen sich keine Pause.
Ich schaue um mich: Die rasende Gesellschaft ist abrupt zum Stillstand gekommen. Viele stehen verdattert draußen, schauen besinnlich in eine Richtung. Niemand hört laute Musik, niemand lacht. Manche halten sich aneinander fest, umarmen sich. Auch ich nehme meine Tochter in den Arm und denke: Unser Leben ist so kostbar, so verletzlich und endlich.
Es gibt eine „einzige unbestreitbare Solidarität unter uns Menschen", sagt der Philosoph Albert Camus. Es ist „die gemeinsame Front gegen den Tod." Da ist Stille und Besinnung das Verbindende. Da brauchen wir einander.
Die Frau mit den verweinten Augen hinter der Sonnenbrille kommt auf uns zu und fragt, ob sie unseren Kindern Schokolade schenken darf. Wir kommen ins Gespräch und sie erzählt uns, dass ihr Sohn vor Jahren auf genau dieser Autobahn zu Tode gekommen sei.
Nach Stunden dürfen wir endlich weiter. Die Schokolade ist längst verzehrt. Die Frau aber geht mir lange nicht aus dem Kopf. Ich denke jetzt an sie und bete: Gott, sei heute bei dieser Frau. Begleite uns, alle, die jetzt gerade unterwegs sind. Leben ist so kostbar, Gott halte du deine Hand darüber. Amen.

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